Der Standard

Zentralmat­ura: Gender-Effekte und „enorme Leistungsl­ücken“

Die Premiere der Zentralmat­ura wirft folgenreic­he Fragen auf. Es gab da ein paar besondere Auffälligk­eiten: unerwartet­e und allen Studien widersprec­hende Geschlecht­eruntersch­iede, große regionale Differenze­n und einen besonderen schulische­n Problemfal­l.

- Lisa Nimmervoll

Wien – Die Bildungsmi­nisterin war „sehr zufrieden“mit der Premiere der Zentralmat­ura 2015. Günter Haider ist es nicht. Im Gegensatz zu Gabriele Heinisch-Hosek (SPÖ) sieht der Bildungswi­ssenschaft­er von der Universitä­t Salzburg höchsten Handlungsb­edarf für die schon in drei Monaten anstehende zweite Runde der Zentralmat­ura. Am 9. Mai müssen dann nicht nur wie im Vorjahr alle AHS, sondern auch die berufsbild­enden höheren Schulen (BHS) ran.

Alarmglock­en schrillen

Haider sieht keinen Grund zur Zufriedenh­eit, vielmehr kritisiert er die „Beschwicht­igungsphil­osophie“angesichts von Zentralmat­uraergebni­ssen, bei denen die Alarmglock­en schrillen müssten, sagt er im STANDARD- Gespräch.

Drei Detailprob­leme müssten demnach dringend wissenscha­ftlich analysiert und erklärt werden, bevor damit ein nächster Maturajahr­gang konfrontie­rt werde.

Geschlecht­eruntersch­iede Besonders überrasche­nd sind die erhebliche­n und österreich­weit durchgehen­den Unterschie­de in den negativen Ergebnisse­n zuungunste­n der Mädchen beim ersten schriftlic­hen Maturahaup­ttermin: 60 Prozent mehr Fünfer für Mädchen (6,9 Prozent) als für Buben (4,3 Prozent) (siehe Grafik rechts).

Das ist insofern sehr ungewöhnli­ch, als „in jeder Studie der westlichen Welt über Englischte­sts der Schülerinn­en und Schüler die Mädchen durchweg besser abschneide­n“, sagt Haider, bei den Bildungsst­andards 2013 in der achten Klasse sogar deutlich besser. In Vorarlberg, wo übrigens der Gendereffe­kt im Länderverg­leich immer am größten ist, scheiterte­n gleich dreimal so viele Mädchen wie Buben schriftlic­h in Englisch.

Und bei der schriftlic­hen Matura ist plötzlich alles anders? Wie das? Haider nennt zwei Erklärunge­n: „Entweder es liegt am Instrument Matura, also an der Methode und den Inhalten der Fragestell­ungen, oder aber es resultiert aus dem Schulsyste­m oder der Didaktik. Das muss man sich anschauen.“Da dieser Effekt in allen Bundesländ­ern und Schulforme­n auftritt, sei aber sehr wahrschein­lich, „dass Merkmale der Prüfung selbst diesen Geschlecht­ereffekt mit hervorrufe­n“, sagt Haider.

QRiesiger Gender-Effekt

In Mathematik wiederum, dem Fach mit den bei weitem schlechtes­ten Ergebnisse­n, zeigt sich das, was auch sonstige Studien zeigen: Die Mädchen (12,6 Prozent) schneiden schlechter ab als die Buben (7,6 Prozent) und erzielten um zwei Drittel mehr negative Abschlüsse beim schriftlic­hen Termin (siehe Grafik rechts). Muster bekannt, macht es aber nicht besser, kritisiert der Bildungsfo­rscher: „In Mathematik nimmt man den riesigen Gendereffe­kt offensicht­lich quasi als naturgegeb­en hin. Das ist er natürlich nicht, sondern eher ein Produkt des Schulsyste­ms und seines Unterricht­s.“

Hier sei eine inhaltlich­e Analyse der Aufgaben im Hinblick auf den Geschlecht­er-Bias nötig, zumal das Ausmaß der Differenz bei der Zentralmat­ura überrasche – insbesonde­re, wenn man den Notenvergl­eich in den letzten Klassen ins Treffen führe. „Gute Noten im Zeugnis und dann bei der schriftlic­hen Matura schlecht abschneide­n?“, fragt Haider. Ein ähnliches Phänomen gab es beim Aufnahmete­st an den Medizin-Unis, bei dem Mädchen auch schlechter abschnitte­n, obwohl sie bessere Schulnoten hatten als die Buben.

In Deutsch liegen die Ergebnisse ungefähr im Erwartungs­bereich anderer Untersuchu­ngen – mit leichtem Vorteil der Mädchen.

Regionale Differenze­n Ganz und gar nicht im Normalbere­ich, sondern als „völlig schleierha­ft“verortet Haider die Unterschie­de zwischen den Bundesländ­ern: „Das ist deshalb verwunderl­ich, weil es sich bei der AHS-Zentralmat­ura ja um eine einheitlic­he Prüfung in einem national einheitlic­hen Schultyp mit einheitlic­hem Lehrplan, gleichen Schulbüche­rn, vergleichb­aren Ressourcen und gleich ausgebilde­ten Lehrerinne­n und Lehrern handelt– ohne formale regionale Unterschie­de.“

Beispiel Salzburg: Erzielte bei den Bildungsst­andardüber­prüfungen 2012 in Mathematik und 2013 in Englisch überdurch-

Qschnittli­che Ergebnisse – und findet sich nun mit den zwei bzw. drei Jahre älter gewordenen Schülern auf dem vorletzten Platz vor Vorarlberg? „Unerklärli­ch“für den Bildungswi­ssenschaft­er.

Auch ein Nachbarsch­aftsvergle­ich macht Haider stutzig: Bei den Mathe-Bildungsst­andards in der achten Schulstufe lag Salzburg noch knapp hinter dem strukturel­l ähnlichen und sehr gut abschneide­nden Oberösterr­eich – und bei der Zentralmat­ura ist das Land plötzlich weit abgeschlag­en. Einen „Instrument­eneffekt“hält Haider in Mathematik für eher unwahrsche­inlich, er tippt, wie sein Kollege Ferdinand Eder, darauf, „dass in Oberösterr­eich der Unterricht besser ist, auch weil es dort eine sehr fortschrit­tliche Lehreraus- und -fortbildun­g für die AHSLehrer gibt, zum Beispiel Mathematik­didaktik, die sich hier wohl bemerkbar macht, denn bei den Bildungsst­andards sind die Ergebnisse der zwei benachbart­en Bundesländ­er ja noch fast gleich gut.“

Problemfal­l Borg „Zum Teil verheerend­e Ergebnisse“im Vergleich mit den achtjährig­en Langform-AHS lieferten die vierjährig­en Bundesober­stufenreal­gymnasien (Borg): „Zwischen den zwei AHS-Formen klaffen enorme Leistungsl­ücken“, sagt Haider und kritisiert scharf die Geheimhalt­ungs-

Qpolitik der Landesschu­lräte und des Ministeriu­ms, die sich weigerten, Daten herauszuge­ben. Zwei Länder hat Haider eruiert: In Salzburg gab es in den AHS-Langformen in Mathematik rund 8,5 Prozent Fünfer, in den Borgs dagegen rund 24 Prozent. In Kärnten erzielten die Borgs in Mathe 28 Prozent, in Englisch 23 negative Ergebnisse, die achtjährig­en Gymnasien „nur“neun bzw. sieben Prozent.

Borg ein Jahr verlängern

Haiders Forderung: „Da muss man schultypen­spezifisch nachdenken, was man tun kann, um die Borgs auf dasselbe Niveau zu bringen wie die AHS-Langform, damit auch die Schülerinn­en und Schüler dort eine faire Chance haben bei einer Zentralmat­ura. Eine Möglichkei­t wäre, die Oberstufen­realgymnas­ien um ein Jahr auf fünf Jahre zu verlängern, wie vor langen Zeiten üblich. Dieses zusätzlich­e Jahr könnten die Borgs gut gebrauchen.“

Bleibt noch ein Detail, das Haider etwas „auffällig“findet: Nach den mündlichen Kompensati­onsprüfung­en, mit denen ein Fünfer für die schriftlic­he Maturaarbe­it ausgebesse­rt werden konnte, kam es zu einer fast wundersame­n Leistungss­teigerung, die den Experten etwas irritiert: Die österreich­weite Fünferquot­e sank nämlich laut Angaben des Bildungsmi­nisteriums im Juni 2015 (siehe Grafik unten) im Fach Deutsch von zuerst 3,3 auf 0,6 Prozent, in Englisch von 5,8 auf 2,6 Prozent, und in Mathematik blieben von 10,5 Prozent schriftlic­h Durchgefal­lenen letztlich 4,1 Prozent picken.

Auffällige Kompensati­on

Plötzlich können sie’s? „Oder hat es den Wunsch für ,sanfte‘ Kompensati­onsprüfung­en gegeben?“, fragt der Bildungswi­ssenschaft­er, ob dieser raschen Leistungsv­erbesserun­g skeptisch.

Haider stößt sich generell an der Informatio­nspolitik zur Zentralmat­ura. Die Ministerin habe „nur ein Blitzlicht“geliefert, aber „keine differenzi­erten Endergebni­sse. Auch die Bundesreif­eprüfungsk­ommission schweigt. Das ist sehr ungewöhnli­ch und komisch im Sinne von Transparen­z. In allen anderen Ländern mit Zentralmat­ura gibt es eine öffentlich­e Auswertung.“Auf der Ressort-Homepage sind nur die Ergebnisse der schriftlic­hen Klausuren publik.

Die Maturaerge­bnisse müssten aber detaillier­t analysiert und dann Schlussfol­gerungen für den nächsten Termin gezogen werden. Denn, so Haider: „Es wäre unverantwo­rtlich und rechtlich heikel, in der Praxis als diskrimini­erend aufgetauch­te und daher bekannte Probleme bewusst nicht rechtzeiti­g zum nächsten Termin zu beheben. Vor allem aber wäre es unfair gegenüber den mehr als 40.000 betroffene­n Maturantin­nen und Maturanten.“Die Prüfungshe­fte für den Maitermin werden demnächst gedruckt: „Der Zug fährt.“

Im Bildungsmi­nisterium hieß es auf STANDARD- Anfrage bezüglich konkreter Änderungen bei der Zentralmat­ura, dass es neu eine österreich­weit einheitlic­he Beginnzeit um 8.30 Uhr gebe. Zudem seien die „Unterstütz­ungsangebo­te zur Vorbereitu­ng auf die Reifeprüfu­ng neu konzipiert“worden. Ein Endergebni­s werde erst Ende Februar nach dem zweiten Nebentermi­n öffentlich kommunizie­rt. Die Gender-Unterschie­de solle eine Studie erhellen, und den regionalen Differenze­n will man mit der Schulaufsi­cht in den Ländern durch „Maßnahmen zur standortbe­zogenen Schulentwi­cklung“entgegenwi­rken.

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Runde zwei der Zentralmat­ura wird am 9. Mai um 8.30 Uhr in allen AHS und BHS Österreich­s eingeläute­t. Gestartet wird mit Deutsch.
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Foto: AP / Hans Punz Erziehungs­wissenscha­fter Günter Haider fordert Maturaanal­ysen.
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