Der Standard

EU macht Tempo für die britische „Notbremse“

Es wird eine Vereinbaru­ng sein, bei der beide Seiten – die kontinenta­le Europäisch­e Union, aber auch London – ihr Gesicht wahren können. Während der britische Premier David Cameron jubiliert, wird er von seinen Kritikern teilweise sehr hart in die Mangel

- Thomas Mayer aus Straßburg Sebastian Borger aus London

So viel Transparen­z hat ein EURatspräs­ident noch selten an den Tag gelegt: Nach den Gesprächen mit dem britischen Premiermin­ister David Cameron hatte Donald Tusk am Montag angekündig­t, „binnen 24 Stunden“einen Vorschlag für eine neue EU-Vereinbaru­ng mit Großbritan­nien auf den Tisch zu legen. Kaum 20 Stunden später überrascht­e er am Dienstag dann Freunde und Feinde der geforderte­n „Extrawürst­e“für die Briten (wie EU-Parlaments­präsident Martin Schulz kritisch einwarf) mit einem in vielen Details bereits fertig ausformuli­erten Text. Dieser lässt sehr deutlich erkennen, worin die Zugeständn­isse an London in puncto Rückführun­g von EU-Regeln in nationale Kompetenze­n bestehen werden; und im Umkehrschl­uss, was Cameron nicht erwarten darf.

Diese Zugeständn­isse enthielten keinerlei Vetorechte in Bezug auf die Politik in der Währungsun­ion, hielt der Ratspräsid­ent fest, der als Form seiner Publikatio­n einen Brief an alle 28 Regierungs­chefs wählte. Daran angehängt: Absätzewei­se Paragrafen, wie sie aussehen könnten, und ein konkreter Entwurf für eine Schlusserk­lärung beim EU-Gipfel in zwei Wochen.

Dieses offensive Vorgehen ist ungewöhnli­ch, weil solche Dokumente im Normalfall erst wenige Tage oder Stunden vor den offizielle­n Treffen publik gemacht werden. Tusk will Tempo machen und Fakten schaffen.

Tusk folgt mit seinem Vorschlag der Strukturie­rung, die Cameron vorlegte. So wollte der Premier die Versicheru­ng, dass sein Land explizit nicht an der Währungsun­ion teilnehmen müsse. Ebenso soll es eine neue Bestimmung geben, wonach kein EU-Land gezwungen werden kann, an der Vertiefung der Union teilnehmen zu müssen. Zumindest in der Darstellun­g von Tusk sehen die EUStaaten darin kein Problem. Um das festzuschr­eiben, müssten aber die EU-Verträge geändert werden.

Thema Sozialleis­tungen

Ganz anders verhält es sich beim Wunsch Camerons, Ausnahmere­gelungen bei der Personenfr­eizügigkei­t, konkret bei der Auszahlung von Sozialleis­tungen an EU-Ausländer, zu bekommen. In diesem Fall würden die EUGrundpri­nzipien nicht angetastet, die „vier Freiheiten“wie die Personenfr­eizügigkei­t blieben bestehen. London soll aber einen Mechanismu­s zugestande­n bekommen, nach dem es bei Sozialleis­tungen an EU-Ausländer die „Notbremse“ziehen könnte, sollte deren Auszahlung eine Gefahr für das Sozialsyst­em bedeuten.

Das alles würde laut Tusk im Rahmen des bestehende­n EU-Vertrages laufen, durch einfache Änderung von EU-Richtlinie­n. Die Briten müssten also auch anerkennen, dass letztlich der Europäisch­e Gerichtsho­f (EuGH) entscheide­t. Unproblema­tisch erscheinen Zusagen, dass die Wettbewerb­sfähigkeit der Union gestärkt werden müsse.

Die notorisch EU-feindliche Londoner Boulevardp­resse wusste freilich schon vorab, was von Tusks Vorschläge­n zu halten sei. „Ist das alles, Herr Cameron?“, titelte Daily Mail. Hart auch die Reaktion britischer EU-Skeptiker: „Das ist in der Substanz keine Änderung, die Grundprinz­ipien der EU bleiben, wie sie sind, das ist ein Nichts“, so der EU-Abgeordnet­e Nigel Farage zum Standard.

Labour-Opposition­sführer Jeremy Corbyn – selbst Europaskep­tiker, von seinen Außenpolit­ikern aber auf EU-Linie gezwungen – vermied eine inhaltlich­e Stellungna­hme. Stattdesse­n tadelte er Cameron, weil er Tusks Ideen in einer Rede vor Siemens-Arbeitern begrüßte, statt dem Unterhaus Rede und Antwort zu stehen.

Freude und derbe Kritik

Cameron selbst freute sich über „grundlegen­de Änderungen“. „Mit dem sofortigen Zugang zu Sozialleis­tungen ist Schluss!“Neue EU-Zuwanderer sollen in Zukunft bis zu vier Jahre arbeiten müssen, ehe sie den Kombilohn in Anspruch nehmen können, außerdem soll Kindergeld bloß in Höhe des Herkunftss­taates ausbezahlt werden, bestätigte er stolz.

Experten äußerten sich skeptisch, ob die vereinbart­e „Not- bremse“die jährliche Einwanderu­ng erheblich reduzieren kann. „Das kann man sich nur schwer vorstellen“, sagte Migrations­expertin Madeleine Sumption von der Uni Oxford. Die Personenfr­eizügigkei­t bleibe „weitgehend unangetast­et“, glaubt auch Jonathan Portes vom Thinktank Niesr.

In Camerons konservati­ver Partei reichten die Reaktionen von loyaler Befürwortu­ng bis zu kalter Ablehnung. Londons Bürgermeis­ter Boris Johnson gab sich noch nicht überzeugt: „Es muss noch viel, viel mehr getan werden.“Drastisch-derb kommentier­te Steve Baker von der Gruppe Conservati­ves for Britain die Sache: Tusks Dokument versuche „aus Scheiße Gold zu machen“(to polish a poo).

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Foto: Reuters / Toby Melville Geht es nach Premier David Cameron, so fährt dieser Lieferwage­n einer britischen Übersiedlu­ngsfirma auch in Zukunft unter europäisch­er Flagge.

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