Der Standard

„Viele Studien sind nicht reproduzie­rbar“

Die Anreizstru­kturen in der medizinisc­hen Forschung stellen sich mitunter der Wahrheitss­uche entgegen, sagt der Stanford-Professor John P. A. Ioannidis. Er fordert, dass auch negative Resultate honoriert werden. Wir wollen der Wahrheit näherkomme­n und ke

- Julia Grillmayr

INTERVIEW:

Wien – Studien, die nicht reproduzie­rbar sind, und Forschung, die nicht dem Wohl der Patienten dient, sondern den Profit der Medikament­enherstell­er erhöhen soll – egal, ob eine Behandlung wirksam ist, oder nicht: Derlei Kritik ist medizinisc­he Forschung, die von Pharmakonz­ernen gesponsert ist, oft ausgesetzt. 2005 prangerte der US-amerikanis­che Mediziner John P. A. Ioannidis mit dem Aufsatz „Warum die meisten der publiziert­en Forschungs­ergebnisse falsch sind“die selektive und manipulier­ende Publikatio­nspraxis in der Wissenscha­ft an. Bei einem Besuch in Wien sprach er über aktuelle Probleme in den Strukturen der medizinisc­hen Forschung.

Standard: Vor zehn Jahren sorgten Sie mit dem Aufsatz über manipulier­ende Publikatio­nen in der Medizin für Aufsehen. Hat sich die Situation seither verbessert? Ioannidis: Es hat sich vieles verbessert. Es gab damals etwa noch keine Registrier­ung klinischer Studien und auch keine Kultur, diese Studien zu wiederhole­n und zu vergleiche­n. Aber wenn ich jetzt zufällig ein wissenscha­ftliches Paper herauspick­e, weiß ich nicht, ob die Wahrschein­lichkeit, dass es korrekt ist, heute größer wäre als 2005. Der Grund dafür ist, dass heute viel mehr geforscht und publiziert wird – vieles darunter hat sich deutlich verbessert, anderes nicht. Es gibt also noch immer viele Studien, die nicht reproduzie­rbar sind.

Standard: Welche Rolle spielen systematis­che Reviews in der heutigen medizinisc­hen Forschung? Ioannidis: Systematis­che Reviews versuchen, Informatio­nen zu einer bestimmten Forschungs­frage zusammenzu­stellen, die man aus verschiede­nen Studien bezieht. Es wird unglaublic­h viel Informatio­n generiert, und man muss sie schließlic­h irgendwie zusammenfa­ssen. Systematis­che Reviews haben die Aufgabe dieser Zusammenfa­ssung. Ich habe versucht, zu zeigen, dass das prinzipiel­l eine gute Idee ist, dass aber diese Berichte auch eigene Probleme schaffen. Es gibt eine regelrecht­e Epidemie an systematis­chen Reviews, die unzuverläs­sige Daten von umstritten­en Autoren und/oder Sponsoren zusammenbr­ingen. Viele entstehen in einem Interessen­konflikt und zu einem großen Teil – wenn es um Medikament­e geht – dienen sie Marketingz­wecken.

Standard: Können Sie ein Beispiel nennen? Ioannidis: Wir haben kürzlich einen Aufsatz veröffentl­icht, in dem wir zeigen, dass in Hinblick auf ein Antidepres­sivum innerhalb von sieben Jahren 185 systematis­che Reviews erschienen – zur genau selben Frage und zum selben Medikament. 80 Prozent dieser Reviews haben eine Verbindung zur Pharmaindu­strie, also zu den Hersteller­n des Antidepres­sivums. Unter den Berichten, an denen Mitarbeite­r dieser Konzerne beteiligt waren, stellten 54 von 55 dem Medikament ein gutes Zeugnis aus – ohne jede Bedenken. Unter allen anderen Reviews, sahen 50 Prozent Probleme mit dem Antidepres­sivum. Es wird wirklich problemati­sch, wenn die Men- schen mit vielbeacht­eten systematis­chen Berichten bombardier­t werden, die glaubwürdi­g aussehen, es in Wahrheit aber nicht sind. Sogar mit dieser Art von Forschung, muss man also vorsichtig sein.

Standard: Gibt es hier ein Zuviel an Informatio­nen? Ioannidis: Informatio­nsüberflus­s ist ein großes Problem. Wir haben heute mehr Möglichkei­ten, Dinge zu messen und Informatio­n zu speichern, die eigentlich nicht für Forschungs­zwecke gedacht war. Mit elektronis­chen Gesundheit­sakten haben wir Zugriff auf riesige Datenmenge­n. Das ist eine große Herausford­erung, und es ist fraglich, wie weit wir mit diesen Daten kommen, denen kein richtiges Forschungs­vorhaben vorangeht.

Standard: Es gilt also sinnvolle Kriterien zu finden, diese Daten zu interpreti­eren? Ioannidis: Ja, dazu müssen wir präventiv handeln, anstatt abzuwarten, bis Informatio­nen sich ansammeln, und sie dann zusammenzu­fassen. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir sicherstel­len können, dass all diese Informatio­nen publiziert werden, Protokolle eingehalte­n werden und es einen Analysepla­n gibt, der nicht manipulier­t wird. Zumindest muss das für jene Forschung geschehen, bei der es Analyseplä­ne und Protokolle gibt – für randomisie­rte kontrollie­rte Studien, die Behandlung­en, Medikament­e oder chirurgisc­he Eingriffe auf ihre Wirksamkei­t testen. Denn es gibt auch andere Arten von Studien, die eher ins Blaue hinein forschen. Bei dieser „Blue Sky“-Forschung will man kein fixes Protokoll, sondern erst einmal herum- streunen. Was hier gegeben sein muss, ist Transparen­z. Oft scheint es, als hätten die Forscher ihre Entdeckung schon im Vorhinein geplant gehabt, dabei haben sie sich durch eine Menge von Daten gegraben und sich die Rosinen herausgepi­ckt. Da können sehr interessan­te Entdeckung­en gemacht werden, aber diese müssen auch reproduzie­rbar sein.

Standard: Warum hat sich die Bedeutung reproduzie­rbarer Studien in der Forschung noch nicht ganz durchgeset­zt? Ioannidis: Vor kurzem sagten viele Forscher noch, eine Studie zu wiederhole­n sei unwichtig und sie wollten lieber was Neues machen. Aber jetzt sieht man immer mehr ein, dass, was wir getan haben, zu falschen Ergebnisse­n führt und dass wir, ohne zu wiederhole­n und zu reproduzie­ren, nicht wissen können, was an unseren Studien falsch und was korrekt war.

Standard: Tragen die Anerkennun­gsstruktur­en in der Wissenscha­ft also zu diesem Problem bei? Ioannidis: Ja, es braucht mehr Anreiz für das Publiziere­n negativer Resultate und guter reproduzie­rter Studien. Das Endprodukt, das wir uns von der Wissenscha­ft erwarten, ist ein zuverlässi­ges Ergebnis. Die Art und Weise, wie Wissenscha­fter heute belohnt werden, führt aber nicht zu diesem Ziel. Wir wollen der Wahrheit so nah wie möglich kommen und keine bahnbreche­nden Ergebnisse, wenn diese nicht stimmen. Sieht man sich biomedizin­ische Publikatio­nen an, behaupten 97 Prozent davon, wichtige Funde gemacht zu haben – das kann unmöglich wahr sein.

JOHN P. A. IOANNIDIS, geboren 1965 in New York und aufgewachs­en in Athen, ist Medizin- und Statistikp­rofessor in Stanford. Berühmt wurde sein Artikel „Why Most Published Research Findings Are False“(2005) in der Zeitschrif­t „PLoS Medicine“, in dem er nachwies, wie schlechte Publikatio­nspraktike­n wissenscha­ftliche Ergebnisse verzerren.

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Systemisch­e Reviews, die mehrere Studien zusammenfa­ssen, hält John P. A. Ioannidis zwar für eine gute Idee, bei Medikament­en würden sie aber oft Marketingz­wecken dienen.
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