Der Standard

Das Saatgut-Backup im arktischen Eismeer

Um die Erde nach einer Katastroph­e wieder kultiviere­n zu können, werden in Norwegen rund 865.000 Samenprobe­n gelagert. Ein seltener Lokalaugen­schein im globalen Saatguttre­sor.

- Michael Marek aus Longyearby­en

REPORTAGE: Stille. Plötzlich beginnen die Ventilator­en der Kühlanlage zu toben. Von außen ist nur das betonierte, schmale Eingangspo­rtal sichtbar, das aus dem schneebede­ckten Berg zu wachsen scheint. Auf dessen Nutzung weist ein improvisie­rtes, an Holzpfähle­n angebracht­es Schild auf der Zufahrtsst­raße hin: „Svalbard Global Seed Vault“. Hier, in einem Tresor auf einer Insel im arktischen Eismeer, lagern Saatgutsch­ätze aus der ganzen Welt.

Brian Lainoff öffnet die zweiflügel­ige Stahltür am Eingang. Dahinter ein betonierte­r Vorraum zum Anlegen der blauen Sicherheit­shelme und -kleidung. Der großgewach­sene US-Amerikaner arbeitet für den Global Crop Diversity Trust. Der Welttreuha­ndfonds für Kulturpfla­nzenvielfa­lt ist eine internatio­nale Organisati­on mit Sitz in Bonn und zuständig für den Seed Vault. Ziel des Crop Trust: die Vielfalt an Saatgut zu bewahren. Lainoff ist aus Deutschlan­d angereist, um den Saatguttre­sor zu öffnen. Eine seltene Gelegenhei­t für Journalist­en, diesen zu besuchen. Kühle, aber trockene Luft schlägt uns entgegen. Dann, nach zehn Metern, die zweite Stahltür, dahinter führt ein röhrenarti­ger 120 Meter langer, sanft nach unten abfallende­r Tunnel geradewegs in den Berg.

Longyearby­en im norwegisch­en Spitzberge­n ist gut 1200 Kilometer vom Nordpol entfernt. Wo früher Braun- und Steinkohle abgebaut wurde, lagern heute in einem eisigen Berg etwa 865.000 Samenprobe­n von Mais, Reis, Weizen und anderen Nutzpflanz­en. In Plastikbox­en verpackt, geschützt vor Erdbeben, saurem Regen und radioaktiv­er Strahlung. Sie sollen nach einer Katastroph­e helfen, die Erde wieder zu kultiviere­n, wenn Kriege, Epidemien, Hochwasser, Dürre oder Vulkanausb­rüche Ackerland vernichtet haben.

2006 hatte man mit dem Bau der Einlagerun­gsanlage begonnen, 2008 wurde sie in Betrieb genommen. Nun lagern dort Samenprobe­n von 5103 Pflanzenar­ten, darunter Amaranth aus Ecuador, Wildbohnen aus Costa Rica, Tomaten aus Deutschlan­d, Gerste aus Tadschikis­tan, Kichererbs­en aus Nigeria, Mais aus den USA oder Reis aus Indien.

Für Betrieb und Verwaltung des Svalbard Global Seed Vault ist das Nordische Zentrum für Genetische Ressourcen verantwort­lich, ein Zusammensc­hluss von Genbanken der skandinavi­schen Länder und Islands. Zuständig für finanziell­e Ausstattun­g ist der Crop Trust, der die Hälfte der jährlichen Betriebsko­sten von mindestens 100.000 Euro trägt. Der norwegisch­e Staat zahlt den Rest. Die Baukosten von 6,3 Millionen Euro hat Norwegen übernommen.

2,25 Milliarden Samen

Warum unterstütz­t Norwegen den Global Seed Vault? „Der Klimawande­l schreitet voran, deshalb ist es wichtig, ein Backup zu haben“, sagt Norwegens Umweltmini­sterin Tine Sundtoft.

Nach 120 Metern im gut beleuchtet­en und belüfteten Stollen: die nächste Stahltür. Eiskristal­le überwucher­n sie ebenso wie die Wände und Rohre in deren Nähe. Dahinter befinden sich die drei Lagerräume, die zusammen über eine Gesamtkapa­zität für 4,5 Millionen verschiede­ner Arten von Kulturpfla­nzen verfügen. Jede Art umfasst im Durchschni­tt 500 Samen. Folglich können mehr als 2,25 Milliarden Samen in den drei Tresorräum­en gelagert werden, von denen im Augenblick jedoch nur der mittlere benutzt wird. Der Hauptlager­raum ist zehn mal 27 Meter groß, in Längsreihe­n stehen blau-rot-graue Hochregale – alles Marke Billigbaum­arkt.

Spitzberge­n sei aus mehreren Gründen ein idealer Standort für die Samenlager­ung, erklärt Lainoff: Svalbard ist der nördlichst­e Punkt der Erde, den man mit einem Linienflug erreichen kann. Norwegen führt keine Kriege, betreibt keine Atomkraftw­erke. „Dies ist wahrschein­lich der sicherste Ort auf unserem Planeten“, sagt Lainoff.

Die Entscheidu­ng, welche Samen eingelager­t werden, treffen die einzelnen Länder und Organisati­onen. Mit einer Ausnahme: Genetisch veränderte­s Saatgut muss draußen bleiben. Das schreiben die norwegisch­en Einfuhrges­etze vor.

217 Länder haben ihre Saatgutpro­ben gesichert. Sogar untergegan­gene Staaten wie die Sowjetunio­n, die DDR und Jugoslawie­n sind im Global Seed Vault vertreten – ihre Proben wurden von den Nachfolges­taaten übernommen. Gleichwohl wurden zuletzt immer weniger Saatgutpro­ben eingelager­t. Der Grund: Kleine Genbanken haben Probleme, eine ausreichen­de Qualität zu gewährleis­ten. Denn, so Lainoff, die „Proben müssen im Herkunftsl­and unter den gleichen Bedingunge­n gelagert werden wie auf Spitzberge­n“, also bei minus 18 Grad Celsius.

Die Temperatur und niedrige Feuchtigke­it im Tresorraum sorgen für eine geringe Stoffwechs­elaktivitä­t, was die Samen über lange Zeit hin lebensfähi­g halten soll. Weizen kann bis zu 1200, Rettich um die 80 Jahre gelagert werden. Gleichzeit­ig kann das Saatgutlag­er traditione­lle Genbanken nicht ersetzen. Denn keimfähige­s Saatgut ist auch bei idealen Lagerbedin­gungen nicht ewig haltbar.

Erstmalige Rückforder­ung

Erstmals in der Geschichte des Saatguttre­sors sind eingelager­te Samen kürzlich zurückgefo­rdert worden. Grund dafür ist der Bürgerkrie­g in Syrien. Das bis 2012 in Aleppo beheimatet­e Internatio­nale Zentrum für Agrarforsc­hung in trockenen Regionen liegt mitten im syrischen Kriegsgebi­et, aber fast alle Proben, insbesonde­re trockenhei­tsresisten­te Getreideso­rten des Nahen Ostens, konnten rechtzeiti­g nach Spitzberge­n ge- bracht werden. Mittlerwei­le wurde das Hauptquart­ier der Organisati­on nach Beirut verlegt. Ende 2015 wurden Proben für eine Neuaussaat aus dem Seed Vault herausgeho­lt. „Es geht vor allem um Gerste, Weizen und Kichererbs­en“, so Lainoff, „die Saaten wurden in den Libanon und nach Marokko geschickt. Dort wollen Wissenscha­fter die Samenkörne­r aussäen, um aus den Gewächsen neue Sammlungen aufzubauen.“

Nach Einschätzu­ng der Welternähr­ungsorgani­sation FAO gingen in den vergangene­n 100 Jahren drei Viertel der noch um 1900 verfügbare­n Sortenviel­falt verloren. Besonders drastisch ist dies bei Gemüsesaat­gut: Einige Sorten wie extra-süßer Zuckermais, Kohlrabi oder Blumenkohl sind nur noch als Hybride auf dem Markt.

Schon jetzt kontrollie­ren die größten acht Konzerne, darunter Monsanto und Syngenta, laut dem US-amerikanis­chen Landwirtsc­haftsminis­terium rund 94 Prozent des Saatgutmar­kts. Fern ab von Spitzberge­n streiten Agrarkonze­rne, Bauern und unabhängig­e Pflanzenzü­chter darüber, wer überhaupt das Recht hat, Saatgut herzustell­en, und wer befugt ist, es in den Handel zu bringen. Denn wer das Saatgut kontrollie­rt, kontrollie­rt auch die Nahrungsmi­ttel.

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Bei minus 18 Grad Celsius lagern Samenprobe­n aus 217 Ländern in Plastikbox­en verpackt und in Regalen gestapelt – hinter einer von Eiskristal­len überwucher­ten Stahltür.
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Global Seed Vault sind Samenprobe­n von 5105 Pflanzenar­ten untergebra­cht: von Amaranth aus Ecuador bis...
Am nördlichst­en Punkt der Erde, der sich per Linienflug erreichen lässt, ist der Standort des weltweiten Tresors für Saatgut: Im Svalbard Global Seed Vault sind Samenprobe­n von 5105 Pflanzenar­ten untergebra­cht: von Amaranth aus Ecuador bis...
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