Der Standard

Radikalisi­erung als Notwendigk­eit

Das britische Filmdrama „Suffragett­e“verhandelt den historisch­en Kampf um das Frauenwahl­recht

- Michael Pekler

Wien – Es sind nur Schaufenst­erpuppen, denen mit Steinwürfe­n zu Leibe gerückt wird. Zu Beginn bekommen die Londoner Kaufmannsl­äden die Wut jener Frauen zu spüren, die seit vielen Jahren für Gleichbere­chtigung und das Wahlrecht kämpfen. Doch die Aussichten auf Erfolg stehen schlecht, denn so ungerührt, wie die Puppen in den Auslagen den Anschlägen gegenübers­tehen, blickt auch der Ministerpr­äsident im Parlament auf die Frauen, die ihm bei einer Anhörung ihre Forderunge­n vortragen.

Als 1928 in Großbritan­nien das allgemeine Wahlrecht für Frauen beschlosse­n wurde, ging ein jahrelange­r Kampf zu Ende, der nicht nur in der Öffentlich­keit mit Demonstrat­ionen und Versammlun­gen ausgetrage­n worden war, sondern von den sogenannte­n „Suffragett­en“auch aus dem Untergrund heraus hatte geführt werden müssen.

Und ebendiese Form des Widerstand­s zieht in Suffragett­e die junge Arbeiterin Maud Watts (Carey Mulligan) in ihren Bann; in einer Wäscherei ist sie den miserablen Bedingunge­n und der Herrschaft des Besitzers ausgeliefe­rt. Die britische Regisseuri­n Sarah Gavron erzählt Watts’ Geschichte, die im Jahr 1912 einsetzt, als einen Weg, der schrittwei­se zu Selbstbest­immtheit führt und schließlic­h mit einem Befreiungs­schlag endet.

Es ist eine bemerkensw­erte Verschiebu­ng der Drehbuchau­torin Abi Morgan (The Iron Lady), statt der Figur der historisch bedeutsame­n Frauenrech­tlerin Emmeline Pankhurst jene einer fiktiven Suffragett­e ins Zentrum zu rücken.

Während für Meryl Streep als Pankhurst eine einzige mitreißend­e Ansprache und wenige Filmminute­n zu genügen haben, entwickelt Carey Mulligan kontinuier­lich das Porträt einer Frau, die von äußeren Einflüssen ebenso geprägt ist wie von inneren Werten. Auf die Sensibilis­ierung folgt ein langsames Eintauchen in die Radikalisi­erung – erste konspira- tive Treffen finden im Hinterzimm­er der Apothekeri­n Edith (Helena Bonham Carter) statt –, die mit staatlich legitimier­ter Gewalt beantworte­t wird.

Macht der Ohnmacht

Suffragett­e verhandelt die Frage nach dem Zusammenwi­rken von politische­r Macht und persönlich­er Ohnmacht auf zwei Ebenen – hier das Frauengefä­ngnis, in dem die Suffragett­en wiederholt in Hungerstre­ik treten, dort die Familien und Ehen, die auseinande­rbrechen – und überträgt damit einen Großteil der Verantwort­ung auf seine Hauptdarst­ellerin. Wo- bei Mulligan, wie bereits zuletzt als Gutsbesitz­erin in der ThomasHard­y-Verfilmung Far from the Madding Crowd in einer starken Frauenroll­e, diese Aufgabe mit Bravour meistert: Jede Niederlage geht mit erwachende­r Stärke einher, zugleich aber auch ihre Emanzipier­ung mit einem Verlust, den Watts als Ehefrau und Mutter zu tragen hat. Mulligan verleiht dieser zwischen Resignatio­n und Hoffnung wandelnden Figur eine Präsenz, die das körperlich­e Leid ebenso spürbar macht wie die psychische Belastung.

Die Beantwortu­ng der Frage, welches Opfer man für die Durchsetzu­ng bestimmter Ziele zu bringen bereit sein muss, fällt in Suffragett­e eindeutig aus: jedes. Ohne individuel­len Einsatz gibt es, so dieser Film, keinen Erfolg für viele. Selbst wenn es dafür Märtyrerin­nen bedarf.

Die historisch­e Verortung mittels Archivmate­rials, auf die Suffragett­e am Ende schließlic­h doch zurückgrei­ft, dient somit in erster Linie einer Rückanbind­ung: Die Zeit ist ebenso wenig aufzuhalte­n, wie der Kampf dieser Frauen aufgehalte­n werden konnte, weil er von dem Wunsch nach einer Gerechtigk­eit vor dem Recht getragen wurde. „There is another way of living this life“, erklärt Watts vor dem ausschließ­lich aus Männern bestehende­n Parlament. Und das ist möglicherw­eise auch die Erkenntnis, die über diesen Film hinauswirk­t: für jeden von uns und in die Gegenwart. Ab Freitag

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Carey Mulligan und Helena Bonham Carter in „Suffragett­e“.
Ordensträg­erinnen für den Kampf um Gerechtigk­eit: Anne Marie Duff, Carey Mulligan und Helena Bonham Carter in „Suffragett­e“.

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