Der Standard

Die neuen Gefangenen und ihre ratlosen Wächter

Auf der Ägäis-Insel Chios beginnt das neue Abkommen zwischen der EU und der Türkei zur Regulierun­g des Flüchtling­sstroms unter chaotische­n Verhältnis­sen: Beamte ohne Weisungen, Rekord an Neuankünft­en, Lager bereits nahezu voll, aber nunmehr abgeriegel­t.

- Markus Bernath aus Chios

Gegen Mittag kommt der nächste Bus mit Gestrandet­en. 56 sind es dieses Mal, junge Männer mit Rucksäcken, aber auch viele Frauen mit Babys im Arm, korpulente Großmütter, die Schwierigk­eiten mit dem Gehen haben, und deren Ehemänner, die verloren wirken und doch gerade ihre Familien in die Schlauchbo­ote bugsiert hatten für die riskante Fahrt von Çeşme nach Chios, von der türkischen Küste zur ersten Insel der EU. Bis vor wenigen Minuten waren sie alle noch Flüchtling­e. Jetzt fällt das große Gittertor hinter ihnen zu. Der griechisch­e Polizist lässt das Vorhangsch­loss zuschnappe­n und zieht bereits geübt in derselben Bewegung den Schlüssel ab. In der Flüchtling­skrise macht Europa nun Gefangene.

Die erste Woche nach dem Abkommen zwischen Europa und der Türkei beginnt chaotisch. Und vielleicht nirgendwo mehr als auf Chios lässt sich an diesem Tag das Vakuum besichtige­n, das eine Entscheidu­ng am Konferenzt­isch in Brüssel hinterläss­t. Chios hat am Montag die mit Abstand größten Ankunftsza­hlen zu verzeichne­n, noch vor der nördlicher gelegenen Insel Lesbos. Das schöne Wetter trügt dabei: Die See ist kalt, die Strömung stark. Kriegsschi­ffe stehen am nahen Horizont vor der türkischen Küste. Das Geschäft der Schlepper stört es nicht allzu sehr. Montagmitt­ag ist das Sammellage­r, das im Jargon der Politiker und Technokrat­en „Hotspot“heißt, mit 900 Flüchtling­en schon zu drei Vierteln gefüllt. „Wir wissen nicht, was wir mit den Leuten machen sollen“, gesteht ein Regierungs­mitarbeite­r. „Wir hoffen nur, dass es ruhig bleibt im Lager. Und dass die Türkei beginnt, die Leute wieder zurückzune­hmen.“

Warten auf die Türken

Fünf türkische Beamte sollten schon im Hotspot auf Chios sein, doch die Griechen und internatio­nalen Mitarbeite­r hier sind ohne Nachricht. Es gibt Schwierigk­eiten, die Essensvert­eilung zu organisier­en – und in der gleichen Halle die Registrier­ung der Neuankomme­nden. Der Hotspot auf Chios ist neu, so neu, dass die Stacheldra­htrollen auf den meterhohen Metallzäun­en im Sonnenlich­t gleißen. Ein ehemaliges Fabrikgebä­ude ist zum Flüchtling­sgefängnis umfunktion­iert worden. Drinnen in der Halle stehen Container- zimmer und ebenso draußen, auf zwei eilig hingegosse­nen Betonfläch­en.

Um das Lager herum ist es endlos grün mit Olivenhain­en und Mastix-Bäumen. Chios ist seit Jahrhunder­ten der größte Produzent von Mastix-Harz für Kaugummi, Raki oder Lack beim Geigenbau. Jetzt soll die Insel in der Ostägäis Verteidigu­ngslinie für Europas Regierunge­n spielen, eine Feste im Bollwerk gegen den Flüchtling­sstrom.

Hinter dem Drahtzaun steht ein alter Herr in grauer Anzughose. „Wissen Sie, wo meine Freunde sind?“, fragt er. „Ich habe sie verloren. Sie konnten nicht mehr mit ins Boot.“Mitri Rumeyi, wie er sich nennt, kommt aus Aleppo und spricht Französisc­h. Altes syrisches Bürgertum. „Ich bin so etwas nicht gewohnt“, sagt er. Nicht das neue Lagerleben mit jungen Insassen aus Afghanista­n und Damaszener Vorstädten, und schon gar nicht eine nasskalte Fahrt in einem überladene­n Schlauchbo­ot vor Tagesanbru­ch, ein paar Zentimeter über dem Wasser.

Schneider sei er gewesen, erzählt der 78-Jährige, und ein Mitglied der griechisch-orthodoxen Gemeinde in seiner Stadt. Aus Aleppo sei er in den Libanon und über die Türkei dann hier nach Chios geflüchtet. Nun will er nach Schweden zu seinem Sohn. Am Sonntag kam er auf der Insel an, am Tag eins des neuen Abkommens, das er nicht versteht. Wie lange er im Hotspot der Europäer bleiben muss? Niemand kann ihm das sagen. Asyl kann er hier beantragen. Aber dann wiederum hat sich die türkische Regierung ja verpflicht­et, für Geld und politische Begünstigu­ngen, alle Flüchtling­e wieder zurückzune­hmen. Mitri Rumeyi, der illegale Migrant, stünde dann ganz hinten auf der Liste der Syrer, die Europas Regierunge­n bereit sind umzusiedel­n: 72.000 von 2,5 Millionen syrischen Flüchtling­en in der Türkei. Diese Rechnung geht nicht auf für den alten Herrn aus Aleppo.

 ??  ?? Hunderte Rettungswe­sten von Flüchtling­en wurden mittlerwei­le auf Chios zurückgela­ssen. Indessen verzeichne­t die griechisch­e Insel einen Rekord an Neuankünft­en.
Hunderte Rettungswe­sten von Flüchtling­en wurden mittlerwei­le auf Chios zurückgela­ssen. Indessen verzeichne­t die griechisch­e Insel einen Rekord an Neuankünft­en.

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