Die neuen Gefangenen und ihre ratlosen Wächter
Auf der Ägäis-Insel Chios beginnt das neue Abkommen zwischen der EU und der Türkei zur Regulierung des Flüchtlingsstroms unter chaotischen Verhältnissen: Beamte ohne Weisungen, Rekord an Neuankünften, Lager bereits nahezu voll, aber nunmehr abgeriegelt.
Gegen Mittag kommt der nächste Bus mit Gestrandeten. 56 sind es dieses Mal, junge Männer mit Rucksäcken, aber auch viele Frauen mit Babys im Arm, korpulente Großmütter, die Schwierigkeiten mit dem Gehen haben, und deren Ehemänner, die verloren wirken und doch gerade ihre Familien in die Schlauchboote bugsiert hatten für die riskante Fahrt von Çeşme nach Chios, von der türkischen Küste zur ersten Insel der EU. Bis vor wenigen Minuten waren sie alle noch Flüchtlinge. Jetzt fällt das große Gittertor hinter ihnen zu. Der griechische Polizist lässt das Vorhangschloss zuschnappen und zieht bereits geübt in derselben Bewegung den Schlüssel ab. In der Flüchtlingskrise macht Europa nun Gefangene.
Die erste Woche nach dem Abkommen zwischen Europa und der Türkei beginnt chaotisch. Und vielleicht nirgendwo mehr als auf Chios lässt sich an diesem Tag das Vakuum besichtigen, das eine Entscheidung am Konferenztisch in Brüssel hinterlässt. Chios hat am Montag die mit Abstand größten Ankunftszahlen zu verzeichnen, noch vor der nördlicher gelegenen Insel Lesbos. Das schöne Wetter trügt dabei: Die See ist kalt, die Strömung stark. Kriegsschiffe stehen am nahen Horizont vor der türkischen Küste. Das Geschäft der Schlepper stört es nicht allzu sehr. Montagmittag ist das Sammellager, das im Jargon der Politiker und Technokraten „Hotspot“heißt, mit 900 Flüchtlingen schon zu drei Vierteln gefüllt. „Wir wissen nicht, was wir mit den Leuten machen sollen“, gesteht ein Regierungsmitarbeiter. „Wir hoffen nur, dass es ruhig bleibt im Lager. Und dass die Türkei beginnt, die Leute wieder zurückzunehmen.“
Warten auf die Türken
Fünf türkische Beamte sollten schon im Hotspot auf Chios sein, doch die Griechen und internationalen Mitarbeiter hier sind ohne Nachricht. Es gibt Schwierigkeiten, die Essensverteilung zu organisieren – und in der gleichen Halle die Registrierung der Neuankommenden. Der Hotspot auf Chios ist neu, so neu, dass die Stacheldrahtrollen auf den meterhohen Metallzäunen im Sonnenlicht gleißen. Ein ehemaliges Fabrikgebäude ist zum Flüchtlingsgefängnis umfunktioniert worden. Drinnen in der Halle stehen Container- zimmer und ebenso draußen, auf zwei eilig hingegossenen Betonflächen.
Um das Lager herum ist es endlos grün mit Olivenhainen und Mastix-Bäumen. Chios ist seit Jahrhunderten der größte Produzent von Mastix-Harz für Kaugummi, Raki oder Lack beim Geigenbau. Jetzt soll die Insel in der Ostägäis Verteidigungslinie für Europas Regierungen spielen, eine Feste im Bollwerk gegen den Flüchtlingsstrom.
Hinter dem Drahtzaun steht ein alter Herr in grauer Anzughose. „Wissen Sie, wo meine Freunde sind?“, fragt er. „Ich habe sie verloren. Sie konnten nicht mehr mit ins Boot.“Mitri Rumeyi, wie er sich nennt, kommt aus Aleppo und spricht Französisch. Altes syrisches Bürgertum. „Ich bin so etwas nicht gewohnt“, sagt er. Nicht das neue Lagerleben mit jungen Insassen aus Afghanistan und Damaszener Vorstädten, und schon gar nicht eine nasskalte Fahrt in einem überladenen Schlauchboot vor Tagesanbruch, ein paar Zentimeter über dem Wasser.
Schneider sei er gewesen, erzählt der 78-Jährige, und ein Mitglied der griechisch-orthodoxen Gemeinde in seiner Stadt. Aus Aleppo sei er in den Libanon und über die Türkei dann hier nach Chios geflüchtet. Nun will er nach Schweden zu seinem Sohn. Am Sonntag kam er auf der Insel an, am Tag eins des neuen Abkommens, das er nicht versteht. Wie lange er im Hotspot der Europäer bleiben muss? Niemand kann ihm das sagen. Asyl kann er hier beantragen. Aber dann wiederum hat sich die türkische Regierung ja verpflichtet, für Geld und politische Begünstigungen, alle Flüchtlinge wieder zurückzunehmen. Mitri Rumeyi, der illegale Migrant, stünde dann ganz hinten auf der Liste der Syrer, die Europas Regierungen bereit sind umzusiedeln: 72.000 von 2,5 Millionen syrischen Flüchtlingen in der Türkei. Diese Rechnung geht nicht auf für den alten Herrn aus Aleppo.