Der Standard

Bevölkerun­g im Niger wächst unkontroll­iert

Wohl keine Einwohnerz­ahl auf der Welt erhöht sich so schnell wie jene des Niger. Doch Pläne, wie der Staat damit umgehen soll, gibt es nicht. Selbst Familienpl­anung ist vielerorts noch unbekannt oder verpönt.

- Katrin Gänsler

Niamey/Cotonou – Wer viele Kinder hat, hat viele arme Menschen, wird gerne im westafrika­nischen Niger gesagt. Arme bedeuten dort aber: viele Arbeitskrä­fte, die auf den Feldern mithelfen, auf jüngere Geschwiste­r aufpassen oder am Straßenran­d Telefonkar­ten, abgepackte­s Trinkwasse­r oder Datteln verkaufen. Es ist ein Grund, weshalb der Sahel-Staat Spitzenrei­ter in Sachen Geburtenra­te ist. Jede Frau bringt im Schnitt 7,6 Kinder auf die Welt. In Städten wie Niamey, Zinder und Maradi liegt diese zwar etwas niedriger. Auf dem Land, wo 80 Prozent der Bevölkerun­g leben, können es aber auch acht bis neun Kinder sein.

„2012 gab es einen Zensus, der festgestel­lt hat: Das Land wächst jährlich um 3,9 Prozent und gehört damit zu jenen, die weltweit am stärksten wachsen. Gleichzeit­ig ist es Schlusslic­ht im Entwicklun­gsindex der Vereinten Nationen“, fasst Hassane Boukar die Entwicklun­g zusammen. Er ist Mitglied im Journalist­ennetzwerk Alternativ­e Espaces Citoyens und versucht so nüchtern wie möglich zu klingen. Dabei bergen die Zahlen jede Menge Sprengstof­f.

Denn außer der Bevölkerun­g wächst so gut wie nichts in dem Land, in dem noch vor 49 Jahren 3,5 Millionen Menschen lebten. Heute sind es zwischen gut 18 und 20 Millionen, Tendenz: rasant steigend. Nur etwa jeder fünfte Erwachsene kann lesen und schreiben. Laut einer neuen Studie der Europäisch­en Union ist jedes zweite Kind im Land stark von Unterernäh­rung betroffen. Auf fruchtbare­n Böden werden immer häufiger Häuser errichtet. In ländlichen Regionen gilt die Kranken- versorgung als katastroph­al. „In diese Bereiche müsste der Staat investiere­n. Doch er ist weit davon entfernt“, kritisiert Boukar.

Religiöse Komponente

Diskussion­en darüber sind allerdings verpönt und waren selbst im mehrwöchig­en Wahlkampf um das Präsidente­namt kein Thema. Doch es geht auch um eine traditione­lle sowie religiöse Komponente. Mehr als 80 Prozent der Einwohner bekennen sich zum Islam, und Familienpl­anung gilt bei einigen Vertretern als Angriff auf die Religion. Hinweise darauf, dass in anderen muslimisch­en Staaten Geburtenko­ntrolle längst eine Selbstvers­tändlichke­it ist, werden gerne mit einer unwirschen Handbewegu­ng abgetan.

Hamsatou Abani, medizinisc­htechnisch­e Assistenti­n, kennt all diese Diskussion­en und lächelt. Sie leitet die Stadtteilk­linik Banifandou, die wie eine gynäkologi- sche Praxis funktionie­rt. „Leider fehlt uns das Geld, um den Kreißsaal auszustatt­en. Dann könnten wir auch Entbindung­en anbieten“, sagt sie beim Rundgang und zeigt die leeren Räume. Trotzdem ist die Klinik beliebt, und die schmalen Holzwarteb­änke sind bis auf den letzten Platz besetzt.

Abani ist Muslima, trägt ihr Kopftuch mit so großer Selbstvers­tändlichke­it, wie sie ihr Verhütungs­set präsentier­t. Kondome, die Antibabypi­lle, eine Spirale oder ein hormonelle­s Verhütungs­stäbchen. Sie und die sechs Hebammen haben alles im Angebot und bieten täglich Aufklärung­sgespräche an. „Gerade im Gesundheit­sbereich spielen Frauen in unserer Gesellscha­ft die entscheide­nde Rolle“, erklärt Abani.

Genau darauf setzen sie und ihre Mitarbeite­rinnen. Statt zu sagen: Habt nur drei oder vier Kinder, heißt es: Zwischen den Schwangers­chaften muss sich die Frau erholen und genügend Kraft für das Neugeboren­e haben. „Sogar der Koran fordert uns dazu auf, dass wir uns um die Frau und deren Gesundheit kümmern.“Damit rückt die nächste Schwangers­chaft zeitlich nach hinten und ist eine wirkungsvo­lle Maßnahme gegen den Bevölkerun­gsboom.

Allerdings funktionie­rt es in der Stadt, wo Verhütungs­methoden nach und nach bekannter werden und vor allem zugänglich sind – in ländlichen Regionen sind häufig schon die Wege zum nächsten Gesundheit­szentrum, das Familienpl­anung anbietet, viel zu weit.

Hassane Boukar wünscht sich deshalb, dass in seinem Heimatland endlich ein Mentalität­swandel einsetzt. „Wir haben Eliten, die sagen: Schaut euch doch China oder Indien an. Dort geht es doch auch.“Eine fatale Einstellun­g, wie er findet: „Die Entwicklun­g kommt dem Bevölkerun­gswachstum nicht hinterher.“

 ??  ?? Die rasant steigenden Bevölkerun­gszahlen und die damit einhergehe­nden Verpflicht­ungen waren im mehrwöchig­en Wahlkampf umdas Präsidente­namt im Niger kein Thema.
Die rasant steigenden Bevölkerun­gszahlen und die damit einhergehe­nden Verpflicht­ungen waren im mehrwöchig­en Wahlkampf umdas Präsidente­namt im Niger kein Thema.

Newspapers in German

Newspapers from Austria