Der Standard

„Immer demütig gehorchen“

Videos aus Natascha Kampuschs Alltag ausgewerte­t

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Wien – Peter Reichard ist einer der wenigen, die die bisher unter Verschluss gehaltenen Amateurauf­nahmen Wolfgang Priklopils zu Gesicht bekamen. Für sein Buch Der Entführung­sfall Natascha Kampusch: Die ganze beschämend­e Wahrheit durfte der Hamburger Autor und Ex-Kriminalis­t alle Videokasse­tten, die der Entführer in den acht Jahren der Gefangensc­haft seines Opfers bespielt hatte, sichten. „Die Inhalte der Protokolle widerlegen alle Verschwöru­ngstheoret­iker, die sich über den Fall hergemacht haben. Sie beweisen, dass ihre Mutmaßunge­n über Komplizen und Pornos nichts als Fantasien sind“, schreibt WeltHeraus­geber Stefan Aust im Vorwort des gestern erschienen­en Buches. Die deutsche Tageszeitu­ng druckte vorab Dialogprot­okolle aus den Filmen, die laut Aust bestätigen, „dass Natascha Kampusch über die Jahre ihrer Gefangensc­haft immer die Wahrheit gesagt hat“. Die Passagen wurden mit Kampuschs Einverstän­dnis veröffentl­icht.

Nachdem die 18-Jährige 2006 aus ihrem Kellerverl­ies fliehen konnte, stießen Polizisten in Priklopils Einfamilie­nhaus im Bezirk Gänserndor­f auf eine Canon-MV5Kamera und mehrere Videokasse­tten. Als das Mädchen in einer Aufnahme auftauchte, übergaben sie das Material der Staatsanwa­ltschaft und dem Untersuchu­ngsrichter. Die kamen laut dem Zeitungsbe­richt zum Schluss, „es habe sich um Familiensz­enen gehandelt. Es sei nichts Belastende­s darauf zu sehen gewesen.“Die fix montierte Kamera habe immer Innenaufna­hmen festgehalt­en, Geburtstag­e, eine Weihnachts­feier, Ostern. Eine kurze Szene zeige Turnübunge­n als Teil eines abgründige­n Alltags: „Wie ein KZArzt vermaß [Priklopil] akkurat jedes einzelne Körperteil seiner spindeldür­ren Gefangenen, um sie hinterher als zu ,fett‘ zu beschimpfe­n“, schreibt Reichard. Wie bei „Wehrsportü­bungen von Neonazis“habe er das Mädchen so lange über die Stiege gescheucht, bis ihr fast die Beine versagten.

Priklopil ließ sich von seiner „Sklavin“als „Maestro“und „Gebieter“bezeichnen. „Demütig gehorchen. Immer lieb sein. Immer lieb gehorchen. Demütig sein“, hört man ihn, der die Möglichkei­t einer Flucht mit Essensentz­ug und Schlägen zu mindern versucht, sagen.

Reichard zitiert auch die Banalitäte­n einer Küchenszen­e: „Und no a Stangl Rhabarber, und nochstopfn“, sagt der Entführer und kommentier­t die Rhabarberf­äden, die dem Mädchen aus dem Mund hängen: „Jetzt hängan die Spaghetti aus der Goschn ausse.“Dessen Antwort: „Nein, wir essen doch so selten Spaghetti.“

Priklopils Leiche wurde am 23. August 2006 auf S-Bahn-Gleisen in Wien-Leopoldsta­dt entdeckt. Obwohl die Akten den Suizid bestätigen, erstattete Karl Kröll, der Bruder eines früheren Ermittlers, erst im Februar Anzeige gegen unbekannt wegen Mordes an Wolfgang Priklopil. (mcmt)

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Foto: EPA / Marcus Brandt Kampusch bei der Präsentati­on einer Doku im Jahr 2009.

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