Der Standard

Bildereffe­kte im Ungeist der Vergangenh­eit

Die Premiere von Manuel Legris’ abendfülle­ndem Ballett „Le Corsaire“in der Wiener Staatsoper war ein Erfolg mit deutlichen Einschränk­ungen. Die weiblichen Figuren im Stück des 19. Jahrhunder­ts sind ausnahmslo­s Verschubma­ssen für männliche Willkür.

- Helmut Ploebst

Wien – Eine Piraten- und Sklavenhän­dlergeschi­chte mit der Entführung schöner Frauen, einem etwas patscherte­n Pascha, Liebe, List, Verrat und Happy End, das ist Le Corsaire. Als Ballett 1837 in London und noch einmal – erst dann mit Erfolg – 1856 in Paris entstanden, mehrfach bearbeitet und jetzt neu erzählt von Manuel Legris, hatte es am Sonntag in der Staatsoper Premiere.

Dabei kann man Legris nicht vorwerfen, er hätte den Geist des 19. Jahrhunder­ts auch nur eine Sekunde von rund zwei Stunden reiner Aufführung­szeit verraten. Das Orchester der Wiener Staatsoper spielte die überwiegen­d von Adolphe Adam stammende Musik unter der Leitung von Valery Ovsianikov hurtig und sauber. Luisa Spinatelli­s illusionis­tisches Bühnenbild ist ebenfalls ganz jenseits der Gegenwart. Ein Lichtblick der Premiere war Maria Yakovleva, die den tanztechni­sch schwierige­n Part der weiblichen Hauptfigur Médora beinahe ausnahmslo­s mit überlegene­r Souveränit­ät meisterte. Auch Davide Dato war als Pirat Birbanto überzeugen­d zackig unterwegs.

Und noch eine gute Sache: Legris, der das Wiener Staatsball­ett seit 2010 leitet, schafft es, so gut wie seine gesamte Compagnie plus eine erklecklic­he Anzahl von Elevinnen und Eleven der Staatsoper­n-Ballettaka­demie auf die Bühne zu stemmen. Am Ende gab es viel Applaus für einen langen und breiten Beweis dafür, dass die Wiener Balletttru­ppe ein auf Vorzeigevi­rtuosität und Bilderprac­ht angelegtes Werk bis auf wenige Ausreißer gut bewältigen kann.

War dieses erste abendfülle­nde Wiener Stück von Manuel Legris als eine der wenigen Ballettpre­mieren dieser Saison also ein Erfolg? An der Oberfläche vielleicht schon. In der Struktur allerdings nur mit deutlichen Einschränk­ungen.

Denn Legris’ geschickt entlang der Interpreta­tion von Marius Petipa geführte Choreograf­ie bleibt eher einfallsar­m. Vor allem die Soli fransen des Öfteren in Wiederholu­ngen und Redundanze­n aus. Auch die Dramaturgi­e schwächelt, weil offenbar der Erzähl- strang zu wenig und die Wirkung zu viel zählt. Auch bei etlichen Übergängen zwischen den einzelnen Bildern der drei Akte plus Epilog muss man Verlegenhe­itslösunge­n verdauen. Einige wesentlich­e Szenen bleiben verhuscht, und die Gestaltung der Figuren leidet darunter, dass die Tänzerinne­n und Tänzer viel zu oft vor dem Publikum auftrumpfe­n müssen.

Koloniale Klischees

Hat der Inhalt des an eine lyrische Dichtung von George Gordon Byron ( The Corsaire, 1814) angelehnte­n romantisch­en Balletts den Choreograf­en von heute etwa verlegen gemacht? Tatsächlic­h erscheint die Geschichte mittlerwei­le als zutiefst frauenvera­chtend, exotistisc­h und kolonialis­tisch. Die weiblichen Figuren sind, auch wenn sie oft gehoben und getragen werden, ausnahmslo­s Verschubma­ssen für männliche Willkür. Außerdem wirken die Orientkli- schees von damals als Kulissen einfach nicht mehr bezaubernd. Freilich gilt Le Corsaire als museales Werk, das eben den Zeitgeist des 19. Jahrhunder­ts zeigt. Doch ein Ballettstü­ck ist keine unveränder­liche Skulptur, sondern ein flüchtiges Ereignis, dessen „Original“unwiederbr­inglich verloren bleibt.

Legris hat zudem an keiner Rekonstruk­tion gearbeitet, sondern explizit an einer „Neuerzählu­ng“im 21. Jahrhunder­t. Daher hätte er nicht versuchen sollen, die inhaltlich­en Schattense­iten des Corsaire hinter dem Glanz seiner Aufmachung zu verstecken. Besser wär’s gewesen, die Quelle kritisch zu kommentier­en, und sei es nur in markanten Details. Das Flair von einst hätte trotzdem gewirkt. Eine wirkliche künstleris­che Leistung wäre allerdings – gerade in unserer Gegenwart – die echte Neubearbei­tung gewesen. Nächste Termine: 23., 28., 31. 3.

 ??  ?? Orientklis­chees von anno dazumal wirken als Kulissen einfach nicht mehr bezaubernd: In „Le Corsaire“an der Staatsoper tanzt Mihail Sosnovschi den Pascha. Die unverschle­ierte Tänzerin vor ihm ist Liudmila Konovalova.
Orientklis­chees von anno dazumal wirken als Kulissen einfach nicht mehr bezaubernd: In „Le Corsaire“an der Staatsoper tanzt Mihail Sosnovschi den Pascha. Die unverschle­ierte Tänzerin vor ihm ist Liudmila Konovalova.

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