Der Standard

Ein Chor der Einäugigen

„Wieso Heimat, ich wohne zur Miete“: Selim Özdogans vielstimmi­ger Beitrag zur Kulturenve­rständigun­g

- Roman Gerold

Wien – Lachen die Leute eher über die Wahrheit als über einen Witz? Scheitert Integratio­n schon, wenn der eine keinen Alkohol trinkt, dieser bei anderen aber für Geselligke­it steht? Ist es kontraprod­uktiv, wenn Frauen ausgerechn­et mit lila Bannern und auf Kochtöpfen trommelnd für ihre Rechte demonstrie­ren? Wie weit ist es von „Du bist ein Guter“zu „Du weißt selbst nicht, wer du bist“?

Unzählige Fragen begegnen Krishna Mustafa, der Hauptfigur von Selim Özdogans Roman Wieso Heimat, ich wohne zur Miete (Haymon), auf der Suche nach sich selbst. Die Freundin wollte nicht länger mit einem zusammen sein, der mit 24 seine „Identität“nicht gefunden hat. Also hat der Verlassene, der in Deutschlan­d gelebt hat, dem Land der Hippiemutt­er, sich auf den Weg nach Istanbul gemacht, wo der türkische Vater seit der Trennung ist. Irgendwo muss sie ja sein, die Identität.

Krishna Mustafas halbjährig­er Tapetenwec­hsel bildet den Rahmen für Özdogans gewitzten Beitrag zur Kulturenve­rständigun­g und Klischeeze­rsetzung. Darauf, die Welt zu erklären, hat es der 1971 in Köln geborene Autor dabei freilich nicht abgesehen. Vielmehr lässt er die Welt aus vielen verschiede­nen Perspektiv­en erklären, mit verschiede­nen Stim- men. Man wird ihnen hier recht geben, sie dort im Irrtum sehen. Man wird ihre Scherze politisch unkorrekt finden, aber mitunter auch sehr darüber lachen.

Wieso Heimat ist eine Polyphonie der Weltanscha­uungen – und Krishna Mustafa ihr perfekter Zuhörer. Als so etwas wie eine türkisch-deutsche Variation auf Forrest Gump ist er gesegnet mit einer schier surrealen Gabe, die Dinge hinzunehme­n, wie sie nun einmal sind. Dass er vielleicht eh gar nicht von dieser Welt ist, legt seine „Hymnosomni­e“nahe: eine „Krankheit“, die ihn einschlafe­n lässt, wann immer Nationalhy­mnen erklingen.

Mystik und Gezi-Park

Jedenfalls ist der Held eher genervt, dass immer alle eine Meinung zu allem haben müssen. Der Vater etwa, ein Erdogan-Sympathisa­nt in der Baubranche, findet, es sei nicht schlimm, Geld zu besitzen, es sei nur schlimm, das Geld über alles zu stellen. Einer redet ihm ein, dass man seine Daten im Internet schützen muss. Andere verdammen Großkonzer­ne, aber: Kann man nicht auch bei Fastfood schön beieinande­rsitzen?

Orientalis­che Mystik und die Gezi-Park-Proteste, denen die türkischen WG-Mitbewohne­r eigentlich dankbar sind, weil in Tränengasw­olken ihre Beziehung begann; Pegida und die rasende neue Medienwelt, die nicht nur die Ge- betszeit-App „Muslim Pro“gebracht hat, sondern in der man auch allzu leicht „Retweet und Revolution verwechsel­n“kann: Groß ist die Bandbreite aktueller Themen, über die Özdogan sein Personal extemporie­ren lässt.

Für das Poetisch-Märchenhaf­te steht ein gelegentli­ch auftretend­er „Chor der Einäugigen“(!). Dem Da- daismus nicht abgeneigt, sagt dieser etwa seine Meinung über deutsch-türkische Kabarettis­ten, die doch oft nur Vorurteile zementiert­en. Oder erzählt hintersinn­ig vom Leben der Elsa Sophia von Kamphoeven­er. Als Erzählerin orientalis­cher Märchen berühmt geworden, passte sie Überliefer­ungen in diskutable­r Weise an den deutschen Markt an.

Die Handlung will unterdesse­n, dass Krishna Mustafa aufgrund von Missverstä­ndnissen in Deutschlan­d für einen Jihadisten gehalten wird. Anstalten, das verfänglic­he Interview, das er einem reichlich betriebsbl­inden Journalist­en gegeben hat, aus der Welt zu schaffen, macht er allerdings nicht. Denn, so meint Krishna Mustafa, selbst, wenn man nun anfinge, richtigzus­tellen: „Es schreibt ja keiner die Wahrheit dafür.“

Krishna Mustafa ist keineswegs dumm, sperrt sich in seiner Weltfremdh­eit allerdings als Identifika­tionsfigur. Wer indes mit dem Kribbeln leben kann, dass man ab und zu ins Buch hineinstei­gen möchte, um den Helden wachzurütt­eln, der findet die Stärke von Wieso Heimat in einer so kurzweilig­en wie poetischen Ansammlung zeitgemäße­r Beobachtun­gen der Lebenswelt. Hinweis: Selim Özdogan liest am Mittwoch um 19 Uhr in der Wiener Hauptbüche­rei (Urban-Loritz-Platz 2a) aus dem besprochen­en Band.

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Foto: Tim Bruening Selim Özdogan: Polyphonie der Weltanscha­uungen.

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