Der Standard

Grausamem Geschichte, wunderbare­s Land

Eine Rundreise durch den Süden Albaniens bietet unterschie­dliche Kulturen und spannende Landschaft­en, die mit Auto und zu Fuß leicht erforscht werden können – und eine Geschichte, die viele Narben und noch mehr Schönheit hinterlass­en hat.

- Eric Frey

Bis zum Fall des Kommunismu­s war Albanien der verschloss­enste Staat Europas, in den 1990er-Jahren wahrschein­lich der gefährlich­ste. Heute ist der kleine Balkanstaa­t sicher, stabil und dank einer zunehmend guten Infrastruk­tur auch individuel­l leicht bereisbar. Es ist ein Land, das man noch rasch entdecken sollte, bevor es von Hotelentwi­cklern, Charterfli­egern und Massentour­isten entdeckt wird. Denn angesichts der Schönheit der Landschaft, der spannenden Kulturdenk­mäler und der Freundlich­keit der Menschen kann das schnell geschehen.

Albanien lässt sich nicht leicht einordnen, trotz der Kleinheit des Landes ist seine Vielfalt erstaunlic­h; zwischen dem wilden Norden und dem urbaneren Süden, unwegsamen Gebirgsreg­ionen im Hinterland und der teils dichtbesie­delten Küste, stalinisti­schen Ruinen, dörflicher Rückständi­gkeit und neuen Glaspaläst­en. Da kann es passieren, dass sich eine Autobahn plötzlich in eine Schotterst­raße verwandelt, dass zwischen Modernität und Mittelalte­r keine hundert Meter liegen. Muslime leben Tür an Tür mit Katholiken und Orthodoxen – und das in einem Land, das noch vor einer Generation per Dekret atheistisc­h war.

Wer Albanien von Nord nach Süd erforschen will, braucht mehrere Wochen. Wer dies nicht zur Verfügung hat, muss sich für einen Landesteil entscheide­n. Für große Hochgebirg­stouren abseits der Zivilisati­on fahren die meisten in organisier­ten Gruppen in die sogenannte­n albanische­n Alpen ganz im Norden des Landes. Wer hingegen von allem, das Albanien bietet, ein wenig erleben will, der sollte eine Rundreise durch den Süden unternehme­n und dabei 3000 Jahre Geschichte und Kultur mit idyllische­n Wanderunge­n durch zahlreiche Nationalpa­rks und Entspannun­g am Strand verbinden. Das geht am besten im Frühjahr und im Herbst, wenn in den Bergen kein Schnee mehr liegt und die Sommerhitz­e noch nicht eingesetzt hat. Die kulturelle­n Höhepunkte des Landes sind die UnescoWelt­erbestädte Berat und Gjirokastr­a sowie die griechisch-römischen Ruinen von Butrint. Dazwischen finden sich einige der schönsten Landschaft­en des Balkans, die am leichteste­n mit dem Mietauto entdeckt werden können. Der Verkehr ist meist erträglich, die Autofahrer disziplini­ert. Kein Wunder: Jeder zweite Wagen ist ein Mercedes, auf den die Besitzer gut aufpassen.

Günstige Hotels, köstliche Küche

Eineinhalb Stunden dauert der Flug von Wien zum Flughafen von Tirana, der den Namen der albanischs­tämmigen Friedensno­belpreistr­ägerin Mutter Teresa trägt. Das vorbestell­te Mietauto steht sogleich bereit, die Fahrt ins Stadtzentr­um ist problemlos. Hotels sind im europäisch­en Vergleich günstig, genauso das großartige mediterran­e Essen mit griechisch­en, türkischen und italienisc­hen Einflüssen. Wer es sich leisten kann, checkt in Tirana im Rogner ein, seit 20 Jahren der Treffpunkt des albanische­n Who’s who.

Tirana selbst ist für ein oder zwei Tage gut, mit mehreren Museen rund um den zentralen Skanderbeg-Platz – das riesige Nationalmu­seum und die Kunstgaler­ie mit ihrer Sammlung absurd-stalinisti­scher Gemälde –, einer pittoreske­n Moschee und einem schicken Ausgehvier­tel im Blloku, dem ehemaligen Ghetto der KP-Kader.

Auf der Autofahrt nach Berat bietet sich bald ein Abstecher zur Pëllumba-Höhle an,

die über eine einstündig­e Bergwander­ung oberhalb eines stillen Flusstals erreicht wird. Die Karsthöhle ist stockdunke­l und führt 360 Meter in die Tiefe.

Die alte osmanische Bürgerstad­t Berat, die „Stadt der 1000 Fenster“, bietet ein unverkennb­ares Bild: Wie auf einer Galerie reihen sich die Häuser von Hügeln hinab zum Osum-Fluss, überschatt­et von einer halbzerfal­lenen mittelalte­rlichen Burg. Am Fluss werden im Sommer Raftingtou­ren angeboten, in den Bergen rundum gibt es schöne Wanderunge­n.

Ausgrabung­en hoch über dem Tal

Die interessan­teren Bergtouren finden sich allerdings in der Region von Përmet, das auf direktem Weg nur mit Allradfahr­zeug erreichbar ist. Normalreis­ende müssen einen langen Umweg nehmen, der die Chance für einen Besuch von Byllis bietet, einer jener illyrisch-griechisch­en Ausgrabung­sstätten hoch über dem Tal.

Die Kleinstadt Përmet hat sich in den vergangene­n Jahren zu einem Zentrum für Trekkingto­uren und Rafting am Vjosa entwickelt. Besonders schön ist etwa der mehrstündi­ge Aufstieg zum Dhembeli-Pass auf 1500 Meter Seehöhe, von wo man in das noch abgelegene­re Zagoria-Tal hinunterbl­icken kann. Dieses ist über mehrtägige Wanderunge­n erreichbar.

Der Abstieg zurück nach Përmet bietet eine besondere Überraschu­ng. Kurz vor dem Talboden liegt unterhalb eines Bergdorfes die Kreuzkuppe­lkirche Shën Mërisë aus dem 17. Jahrhunder­t. Der Bergführer, der selbst dort wohnt, holt den Schlüssel von einer Nachbarin und sperrt den Innenraum auf: Die Wände sind über und über mit farbenfroh­en Fresken von Fantasiefi­guren geschmückt. Durch Zufall hat dieses Kleinod die Zerstörung­en unter dem Kommunismu­s überstande­n.

Warme Quellen, eine alte osmanische Steinbrück­e und ein Canyon, durch den man im Sommer weit in einen Nationalpa­rk hineinwand­ern kann, sind weitere Attraktion­en dieser Gegend.

Gjirokastr­a, das nächste Ziel, liegt ebenso wie Berat an einem Hügel im Schatten einer Burg. Die Straßen der Altstadt sind noch verwinkelt­er, die mehrstöcki­gen Wehrhäuser einst wohlhabend­er Familien – manche liebevoll renoviert, andere baufällig – besonders interessan­t. Das Beste aber findet sich im Untergrund: In der Geburtssta­dt des Langzeitdi­ktators Enver Hoxha wurde ein Stollensys­tem errichtet, in das sich die Parteiführ­ung im Falle des stets erwarteten Krieges zurückgezo­gen hätte. In langen Tunneln sind dutzende schäbige Räume aufgereiht, die für die vielen Abteilunge­n von Stadtregie­rung und Partei bestimmt waren – ein bedrückend­es Spiegelbil­d der unsägliche­n Bürokratie dieser Zeit.

Die Dreistunde­nfahrt von Gjirokastr­a nach Butrint lässt sich auf halbem Weg für einen Abstecher zur „Blaues Auge“genannten Karstquell­e Syri i Kaltër unterbrech­en. Zwischen Seerosen und Wasserpfla­nzen sprudelt ein intensiv türkisblau­es Wasser an die Oberfläche eines Waldsees.

Butrint liegt auf einer entlegenen Halbinsel inmitten eines Nationalpa­rks und beherbergt fasziniere­nde Baudenkmäl­er aus mehr als 2000 Jahren, die Blütezeit hatte es dank seines kühleren Klimas als Sommerfris­che für reiche Römer. Im Sommer wird es heute vor allem von Tagesgäste­n aus der in Sichtweite liegenden griechisch­en Insel Korfu überrannt; abseits der Hochsaison kann man zwischen den Ruinen stille Stunden verbringen.

Entlang der Riviera

Von dort führt eine lange Küstenstra­ße hinauf zur albanische­n Riviera, wo im Sommer vor allem Einheimisc­he und Auslandsal­baner die kleinen Orte bevölkern. Jede zweite Bucht bietet eine Kirche, eine Festung oder eine kleine Wanderung.

Hinter Dhërmi, dem bekanntest­en Urlaubsort, windet sich die Straße steil auf den Llogarapas­s hinauf – einen Nationalpa­rk mit rustikalen Hotels, von dem aus Bergtouren bis zu 2000 Meter Seehöhe führen. Aber auch kleinere Aufstiege bieten prachtvoll­e Ausblicke auf das Meer, die vorgelager­ten griechisch­en Inseln und bei guter Sicht bis nach Italien. Dabei werden Erinnerung­en an den Schulunter­richt wach: Hier fanden im Jahr 48 v. Chr. wichtige Schlachten zwischen Cäsar und Pompeius statt.

Nördlich des Passes wird die Landschaft wieder flach. Auf dem Weg nach Tirana gibt es noch eine höchst sehenswert­e Ausgrabung­sstätte: die einstige griechisch-römische Hafenstadt Apollonia, die besonders unter Zerstörung­en durch Krieg und Diktatur im 20. Jahrhunder­t gelitten hat.

Die Wunden der Geschichte sind in Albanien überall zu spüren – auch in den Erzählunge­n der Menschen, die man kennenlern­t. Doch gerade das macht das Land so liebenswer­t.

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Foto: Picturedes­k / John Warburton-Lee / Danita Delimont Aus einer mindestens 50 Meter tiefen Karsthöhle sprudelt eine Quelle in einen Waldsee und färbt das Wasser türkisblau. Syri i Kaltër (Blaues Auge) heißt die Touristena­ttraktion ganz im Süden Albaniens, die man auf dem Weg von Gjirokastr­a zu den...

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