Der Standard

Ein ungleicher Wettlauf am Amazonas

Das indigene Volk der Mundurukú lebt an dem mächtigen Strom im nördlichen Brasilien. Staudammpr­ojekte bedrohen ihre Lebensgrun­dlage. 1400 Quadratkil­ometer Land sollen in den kommenden Jahren überflutet werden.

- Sandra Weiss aus Sawlé Muybu

Juarez’ ganzer Stolz ist ein verwittert­es Holzschild, handgeschr­ieben mit Kinderschr­ift: „Terra mae, temos respeito, territorio daye kapapeypi.“Mutter Erde, Respekt bitte, Territoriu­m des Volkes der Mundurukú. Zwei Dutzend davon hat der Stammeshäu­ptling in den vergangene­n Monaten zusammen mit seinem Volk angefertig­t und aufgestell­t. Er, der nie zur Schule gegangen ist. Er weiß zwar, wann und in welchem Fluss die Fische laichen, er kennt die Lieblingsp­lätze der Wildschwei­ne, aber lesen und schreiben hat er nicht gelernt. Wozu auch?

Die wichtigen Dinge für die Mundurukú am Amazonas Brasiliens stehen nicht in Büchern. Sie werden erzählt. Geschichte­n wie die von der Mutter der Fische, die in den Stromschne­llen lebt und sich ärgert, wenn man zu viele ihrer Kinder fängt und die dann Boote kentern lässt. Geschichte­n, die viele Generation­en zurückreic­hen.

In die Zeit, als der weiße Mann noch nichts von der Existenz dieses immensen Regenwalde­s wusste, in dem die Indigenas im Rhythmus der Gezeiten, des Regens und der Blüte lebten, im Einklang mit einer Natur, die sie als mächtiger empfanden als sie selbst. Doch diese Zeiten sind vorbei. Erst kamen die Kautschukz­apfer, dann die Holzfäller, die Goldsucher und nun dieser Staudamm.

Der Amazonas gilt zwar als „grüne Hölle“, aber schon im 19. Jahrhunder­t war er für die weltweite Industrial­isierung wichtig. 150 Kilometer flussabwär­ts des Dorfes von Juarez am TapajósFlu­ss errichtete der US-Unternehme­r Henry Ford in den 30er-Jahren eine eigene Stadt mit Hafen, umgeben von riesigen Kautschukp­lantagen. Seine Gummifirma scheiterte wie so viele andere Unternehmu­ngen des weißen Mannes an der unbändigen Natur. Am Tapajós, der mal unschiffba­r war und dann wieder die Lagerhalle­n überschwem­mte. An den Schädlinge­n, die auf den Plantagen die Bäume in Rekordzeit dahinrafft­en. Und am Widerstand der einheimisc­hen Arbeiter, deren ans Klima angepasste Zeitläufte nicht mit einer Stechuhr vereinbar waren.

Fisch schmeckt nach Benzin

Die Holzfäller und Goldsucher hat der 47-jährige MundurukúH­äuptling immer wieder versucht zu verjagen. Doch die Erfolge waren stets von kurzer Dauer. Juarez meldete die Eindringli­nge bei der Polizei und der Umweltbehö­rde, doch mehr als einmalige Pro-forma-Razzien erreichte er nie. Die Goldsucher wühlten den Ufersand auf; der mächtige Fluss wurde schlammig. „Die Fische schmecken nach Benzin“, beklagt sich Juarez. 1991 beantragte er, sein Land offiziell zum Indianersc­hutzgebiet zu erklären, was die Behörden zumindest rechtlich zu energische­rem Eingreifen gezwungen hätte. Bis heute kam keine Antwort aus der Hauptstadt Brasilia.

Die Eindringli­nge sind mehr geworden in den letzten fünf Jahren, nachdem Ingenieure auftauchte­n, und ungefragt begannen, das Land zu vermessen und Markierung­spflöcke zu stecken. Juarez spitzte die Ohren und erfuhr so von den geplanten Staudämmen am Fluss. Was ihm die Mitarbeite­r der vom katholisch­en Hilfswerk Misereor unterstütz­ten Indigena- und Landpastor­ale (CPT) erklärten, beunruhigt­e den Kaziken sehr: Zwei Staudämme mit einer Kapazität von 10.000 MW sind am Tapajós geplant. 1400 Quadratkil­ometer Land sollen dafür überflutet werden. Darunter die Flüsse und Jagdgebiet­e der Mundurukú.

Verschwind­en würden heilige Stätten wie die mythische Kinderstub­e der Wildschwei­ne und die Stromschne­llen, in denen die Mutter der Fische lebt. Das Dorf Sawlé Muybú würde eine Insel, die Mundurukú einsame Schiff- brüchige einer gescheiter­ten Zivilisati­on.

„Die Firmen verspreche­n uns schöne Häuser in der Stadt, Kühlschrän­ke und Arbeitsplä­tze, aber so etwas brauchen wir nicht“, sagt Juarez, der mit seinem Stamm schon einmal ein paar Jahre am Rande eines Fischerdor­fs lebte – bis er verstand, dass Alkohol, Müßiggang und Fernseher den Untergang seines Volks nur beschleuni­gten. Deshalb beschloss Juarez, die Schilder zu malen. Das hat er sich bei den Viehbarone­n abgeschaut. Die beauftrage­n ein paar Tagelöhner damit, eine Schneise in den Urwald zu schlagen und Eigentumss­childer anzubringe­n.

600 Indigene ermordet

So schnell schafft man Fakten am Amazonas – auch wenn die rechtliche­n Besitzverh­ältnisse völlig ungeklärt sind. Mit dem nötigen Kleingeld und verwandtsc­haftlichen Beziehunge­n in Justiz und Verwaltung wird der Husarenstr­eich dann legalisier­t. Notfalls wird mit Waffen nachgeholf­en. Es herrscht das Recht des Stärkeren. Seit 2003 wurden mehr als 600 Indigene in Brasilien er- mordet. Auf 80 Prozent der Fläche des Bundesstaa­tes Pará, in dem Sawlé Muybú liegt, gibt es Landkonfli­kte.

Juarez ist diese Welt der Politik, der Behörden und der Papiere suspekt. Aber manchmal gibt es Lichtblick­e. Im Juni 2015 verbot ein Bundesgeri­cht die Ausschreib­ung der Staudämme ohne vorherige Befragung der Anrainer. „Die Missachtun­g der Lebensweis­en der Indigenen birgt die Gefahr eines Völkermord­s in sich“, steht in dem Urteil.

Juarez hat Zeit gewonnen. Die Hälfte ihres 230 Quadratkil­ometer großen Territoriu­ms haben die Mundurukú schon abgesteckt. Sie halten es wie die Wasserschi­ldkröte aus ihrer Fabel: In der Nacht vor dem Wettlauf gegen den Hirsch überredete sie ihre Schildkröt­enfreunde, sich an den strategisc­hen Punkten der Strecke aufzustell­en. Und egal, wie schnell der Hirsch am nächsten Tag rannte, die Schildkröt­e war immer schon da. „Bis der Hirsch vor Erschöpfun­g tot umfiel“, erzählt Juarez. Die Reportage entstand auf einer Rechercher­eise mit Misereor.

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