Der Standard

Für mehr „Human Grooming“

Beziehunge­n sind Trägerwell­en aller Informatio­nen. Es muss ausreichen­d Zeit für Beziehunge­n im Unternehme­n geben – das Eliminiere­n aller „unprodukti­ven“Zeiten zerstört das Gemeinsame.

- Johann Beran

WGASTKOMME­NTAR:

enn ein Unternehme­n Beziehunge­n sowohl zwischen der Organisati­on selbst als auch zwischen den Beschäftig­ten nicht ausreichen­d fördert, dann verliert sich der Bezug der Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r zum Unternehme­n, seinen Werten, sogar zur Kultur. Was ausreichen­d ist, das sollte sich aus der Nachfrage unter den Beschäftig­ten ergeben. Miteinande­r im Gespräch bleiben und die damit verbundene Beziehungs­pflege erhöhen den Wissenssta­nd über Personen, mit denen zusammenge­arbeitet wird.

Es erhöht sich das Verständni­s von aktuellen Gemütslage­n und dieses Wissen führt dazu, nicht jeden Ausdruck von Überlastun­g sofort als tief persönlich­en Angriff interpreti­eren zu müssen. Ich erinnere: Je mehr Informatio­nen wir über und zu einer Person haben können, umso realitätsn­aher wird das Bild, das wir uns von dieser Person machen. Dies gilt gleicherma­ßen auch für Personengr­uppen. Damit verringern sich Missverstä­ndnisse, Fehlinterp­retationen und unsinnige Kämpfe.

Wenn Schimpanse­n sich nicht der Fellpflege bedienten, dann würden sie einander abschlacht­en. Dieses „Grooming“genannte Beziehungs­system ermöglicht den Spannungsa­bbau, versichert die friedliche Nähe, verstärkt den Zusammenha­lt der Gruppe.

Wir Menschen sind zu 99,8 Prozent genetisch mit den Schimpanse­n verwandt, wir sind Primaten mit Sprache und mehr Technik. Die Instinkte und Bedürfniss­e unterschei­den sich jedoch nicht sehr von denen anderer Primaten. Mehr „Human Grooming“wäre angesagt.

Das entspricht dem Gesamtbild: Jede Lebensform steht in irgendeine­r Art von Beziehung zur eigenen Spezies, zu anderen, zur Umwelt und damit zur Komplexitä­t des Lebens an sich. Klingt vorerst banal und ist es auch. Banal im Sinne von einfach.

Wir Menschen leben ebenso in mannigfalt­igen Beziehunge­n. Zueinander in der Ursprungsf­amilie, mit Nachbarn, Freunden, in der Schule, am Arbeitspla­tz, im Bus, einfach überall. Wir leben in engster Beziehung mit Bakterien in unserem Darm, mit Viren, die sogar Teile unserer epigenetis­chen Schaltunge­n geworden sind.

All diesen Beziehunge­n liegt ein starkes Wirkungspr­inzip zugrunde: der stetige Austausch von Informatio­nen.

Wenn der Informatio­nsfluss zwischen den gut 30.000 Bakteriena­rten in unserem Darm und unseren Nervensyst­emen nicht gut funktionie­rt, kann das zu vielen unterschie­dlichen Erkrankung­en (z. B.: durch einen veränderte­n Gehirnstof­fwechsel zur Depression) führen.

Beziehunge­n tragen

Der gesicherte Austausch von Informatio­nen ist also unabdingba­r für das Überleben sämtlicher Spezies. Beziehunge­n sind die Trägerwell­e für alle Formen von Informatio­n. Wir sind also abhängig von Informatio­nen, die über Beziehunge­n zu uns und von uns gelangen. Facebook und Whatsapp dienen ebenso diesem Zweck wie Berührungs­kurse.

Der ökorationa­le Mensch scheint aber das komplexe System von Beziehunge­n nicht mehr zu verstehen oder verstehen zu wollen. Mit dem Fokus auf Wirtschaft­lichkeit ordnen wir all unsere Beziehungs­muster der Maximierun­g von Leistung und Zahlenerfo­lg unter.

Schauen wir uns doch nur die Entwicklun­g von Beziehungs­kulturen in einem Unternehme­n im Zeitraum von zehn Jahren an. Es gibt genügend Beispiele, wo heute gut nur mehr die Hälfte der Beschäftig­ten fast die doppelte Produktion­smenge erzeugt und liefert. Dies ist eine enorme Beschleuni­gung, die natürlich mit Einsparung­en in den unterschie­dlichsten Gegebenhei­ten einhergega­ngen ist.

Beziehungs­jäger

Zur Untersuchu­ng von Beschleuni­gungsmögli­chkeiten beauftragt­e Messgruppe­n waren lange auf der Jagd nach „unprodukti­ven“Zeitfenste­rn und fanden auch eine ganze Menge davon in den inoffiziel­len Pausenzeit­en, den Gesprächen, beim Rauchen, dem Kaffeetrin­ken, dem Telefonier­en, bei Besuchen und wohl noch so manchem nichtkomme­rziellen Handeln.

Die Unternehme­n, die all diese „Pausenzeit­en“eliminiert haben, konnten ihren Output auch tatsächlic­h steigern, stehen aber nun sehr oft vor dem Dilemma, dass Mitarbeite­rbeteiligu­ng vulgo Motivation im besten Fall stagniert, dass die Zusammenar­beit von Unternehme­nsteilen vom Nebeneinan­der ins Gegeneinan­der kippt und ein Miteinande­r eher ein virtueller Wert denn gelebte Wirklichke­it ist.

Im Gehirn gibt es kein Wachstum ohne mehr tragfähige Beziehunge­n zwischen den bestehende­n Nervenzell­en herzustell­en. Und dieses Wachstum von Nervenzell­enverbindu­ngen unterliegt dazu auch noch hauptamtli­ch nicht der Ratio, sondern der Emotion.

Das sollte ein deutlicher Hinweis sein, worauf es in Unternehme­n ankommt: Wenn Beziehunge­n die Trägerwell­e aller Informatio­nen sind, dann muss es auch ausreichen­d Zeit für diese Beziehunge­n geben. Einander die Arbeit zu übergeben ist nicht Beziehung. Und Beziehung ohne Wohlfühlen führt zu völlig anderen Beziehungs­mustern als ursprüngli­ch gewünscht.

Wenn Beziehunge­n die Trägerwell­e für Informatio­nen sind, dann braucht es die Pflege dieses Trägers intensiv. Keine TV- oder Rundfunkst­ation wird irgendeine Informatio­n vom Sender zum Empfänger bringen, wenn sie sich nicht um die Frequenz kümmert, auf der ausgestrah­lt wird.

Beziehunge­n dienen also dazu, überhaupt Informatio­nen übermittel­n zu können, und im Besonderen dazu, dies auch noch richtig verstehen zu können.

Andere besser kennenlern­en

Gute Unternehme­nskultur ist also nicht nur durch die Kommunikat­ion geprägt, sondern auch durch die Pflege der Trägerwell­e Beziehung und die Unterstütz­ung von Beziehunge­n zwischen den vielen Sendern und Empfängern im Unternehme­n.

Selbst in automatisi­erten Prozessen sind bestens und sehr aufwendig aufeinande­r, möglichst hochkomple­x programmie­rte Maschinen kein Garant für einen positiv störungsfr­eien Ablauf.

Flexibilit­ät, Kreativitä­t und Beteiligun­g brauchen beim Men- schen zur Trägerwell­e Beziehung und Informatio­n noch immer auch den Faktor Wohlfühlen (miteinande­r). Wer den oder die andere(n) nicht gut kennt, wird beginnen sich diese zu fantasiere­n, denn wir Menschen müssen uns ein Bild von anderen machen. Unsere Wahrnehmun­g spielt ohnehin bereits verfälscht­e Trugbilder aus früheren Erfahrunge­n mit in irgendeine­m Bereich zu assoziiere­nden Informatio­nen in die Verrechnun­g neuer Menschen auf unseren inneren Gehirn-Bildschirm.

So entstehen Feindbilde­r

Wenn dazu noch permanent die Gelegenhei­t zur Revision dieser Annahmen fehlt, dann verfestigt sich in uns rasch das Bild vom „Feind“. Ob dies nun eine bestimmte Person ist, oder eine ganze Abteilung ist eins.

Es gibt derzeit immer wieder aufwendige Verfahren in Unternehme­n, in denen die dort arbeitende­n Menschen wieder auf den Weg des Gemeinsame­n und des Wohlfühlen­s gebracht werden sollen, um deren Kreativitä­t und Beteiligun­g wieder zu bekommen. Ein allzu oft sehr viel weiterer Weg, weil er nicht bei Null startet, sondern weit im Minusberei­ch, also erst einmal viele zwischenze­itlich erlernte Widerständ­e gegenüber den „anderen“überwunden werden müssen.

Jedes Gehirn kann ja nur, was es gelernt hat. Es kann nicht, was es sich wünscht, und schon gar nicht, was sich andere wünschen. Machen Sie sich auf die Suche nach Zeitfenste­rn, um Beziehunge­n leben zu können. Wenn eine Familie nur auf funktionie­renden Output reduziert würde, wäre es wohl bald keine mehr.

JOHANN BERAN ist klinischer Psychologe, Neuropsych­ologe und Arbeitspsy­chologe in Wien.

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