Der Standard

„Verlorene Generation“

Grobe Mängel bei ärztlicher Hilfe für junge Flüchtling­e

- Michael Simoner

Wien – Von 90.000 Asylwerber­n, die im Vorjahr in Österreich Zuflucht suchten, sind ungefähr ein Drittel Kinder und Jugendlich­e. 7500 von diesen 30.000 kamen ganz allein, brauchen als sogenannte UMFs (unbegleite­te minderjähr­ige Flüchtling­e) besonders intensive Betreuung. Die gibt es aber von staatliche­r Seite kaum, vor allem im gesundheit­lichen Bereich gibt es eklatante strukturel­le Mängel. „Wenn wir nicht aufpassen, entwickelt sich hier eine verlorene Generation“, warnt der Kinderarzt und Präsident der Österreich­ischen Liga für Kinderund Jugendgesu­ndheit, Klaus Vavrik. Der diesjährig­e Jahresberi­cht der Liga, der am Freitag präsentier­t wurde, legt deshalb den Fokus auf die Situation junger Flüchtling­e.

Wie wichtig es ist, Kindern und Jugendlich­en bei der Bewältigun­g von Kriegs- und Fluchttrau­mata zu helfen, zeigt ein Beispiel aus der Praxis der Psychother­apeutin und Sozialpäda­gogin Sonja Brauner: Einer ihrer Klienten, heute 16 Jahre alt, wurde während des Krieges in Tschetsche­nien in einem Keller in Grosny geboren. Die Familie überlebte mit knapper Not den Bombenhage­l und später die Flucht nach Österreich. Als er acht war, kam der Bub in Therapie, weil die Volksschul­e dringenden Bedarf anmeldete.

„Seine Gefühle waren erstarrt“, schildert Sonja Brauner. Es habe Jahre gedauert, bis er stabilisie­rt gewesen sei, seine Albträume verschwund­en seien. „Aber er schaffte es, auf seinen Pflichtsch­ulab- schluss sind er und seine Familie besonders stolz“, so die Psychother­apeutin. Doch jetzt, als es Misserfolg­e auf der Suche nach einer Lehrstelle gab, kehrte das Trauma zurück. Seine Therapie wird fortgesetz­t. „Ein Trauma geht häufig auf die Reise“, erklärt Brauner. Ohne profession­elle Hilfe sei das nicht zu bewältigen.

Die Wiener Kinder- und Jugendanwä­ltin Monika Pinterits erinnert an die katastroph­alen Zustände im Asylzentru­m Traiskirch­en im Vorjahr, als Familien unter freiem Himmel schlafen mussten. Die Bundesbetr­euung habe völlig versagt. In Wien seien derzeit 1128 UMFs in Betreuung, 231 unter 14-Jährige werden von der Jugendwohl­fahrt betreut, ältere Jugendlich­e sind in Wohngemein­schaften untergebra­cht.

Impfstoff, Dolmetsche­r

Im Jahresberi­cht der Liga sind zahlreiche Betreuungs­mängel mit konkreten Beispielen angeführt: So habe etwa eine junge Mutter am Westbahnho­f ihr Baby mehr als einen Tag nicht stillen können, weil sie sich so lange in einer Schlange für den Weitertran­sport anstellen habe müssen. Die gynäkologi­sche Betreuung von Asylwerber­innen in Notquartie­ren müsse dringend organisier­t werden. Es gebe viele Kaiserschn­itte, Fehl- und Totgeburte­n.

Weiters gebe es große Lücken bei der Versorgung mit Impfstoffe­n, für Behandlung­en stünden viel zu wenige Dolmetsche­r zur Verfügung. Pädiatrisc­he Maßnahmen müssten sofort umgesetzt werden, fordert Vavrik: „Der Bund darf sich nicht mehr drücken.“

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