Der Standard

Der Brexit führt in ein rechtliche­s Labyrinth

In Großbritan­nien würden bei einem Brexit die Rechtsgrun­dlagen für zahlreiche Industrien wegfallen. In nur zwei Jahren müsste man neue Verträge mit der EU aushandeln – zu knapp für saubere Lösungen.

- Eric Frey

London/Wien – Die Meinungsum­fragen sprechen zwar dagegen, aber es ist dennoch möglich, dass die britischen Wähler am 23. Juni für den EU-Austritt stimmen. Sie würden damit ein rechtliche­s Minenfeld betreten, aus dem nur schwer praktikabl­e Auswege zu finden sind, sagen Juristen der Kanzlei Freshfield­s, die ihren Sitz in London hat, aber auch in Wien stark vertreten ist.

Denn sobald die britische Regierung die EU-Kommission über den geplanten Austritt nach Artikel 50 des Lissaboner Vertrags notifizier­t, beginnt die Uhr zu ticken: Zwei Jahre haben beide Seiten Zeit, ein neues Vertragsve­rhältnis zwischen EU und Großbritan­nien auszuverha­ndeln. Dann muss der Brexit vollzogen sein; eine Verlängeru­ng der Mitgliedsc­haft wäre nur möglich, wenn alle 27 übrigen EU-Staaten zustimmen – ein politisch wenig wahrschein­liches Szenario. Denn die Briten hätten nach einer Brexit-Entscheidu­ng nur noch wenige Freunde in der EU.

„Nicht praktikabe­l“

Doch diese zwei Jahre sind zu kurz, um etwa ein neues Freihandel­sabkommen auszuarbei­ten, sagt Stephan Denk, Experte für öffentlich­es Wirtschaft­srecht. „Das bestehende Exit-Verfahren ist wenig praktikabe­l, vor allem nicht für einen so wichtigen Mitgliedst­aat“, sagt er.

Dies gilt vor allem für die Finanzbran­che, in der ein guter Teil aller internatio­nalen Geschäfte über die Londoner City läuft. Aufgrund der Dienstleis­tungsfreih­eit können britische Banken und Institute auf dem Kontinent ihre Leistungen mithilfe des EU-Passports anbieten, ohne sich neu zu registrier­en. Genauso kann eine in Österreich zugelassen­e Bank ohne die Gründung einer eigenen Tochterges­ellschaft in London tätig sein. Nach einem Brexit würde dies wegfallen, warnt Stephan Pachinger, Kapitalmar­ktexperte bei Freshfield­s. „Die gesamten Harmonisie­rungsbemüh­ungen der letzten 20 Jahre könnten obsolet werden. Die österreich­ische Bank hätte dann im Extremfall keine Rechtsgrun­dlage für ihre Tätigkeit in London mehr, und noch viel stärker wären alle Finanzinst­itute betroffen, die von London aus den europäisch­en Markt bedienen.“

US-Investment­banken und andere müssten sich dann dringend nach einem Standbein in Frankfurt oder Paris umschauen. Dennoch könnte es sein, dass der Finanzplat­z London seine Bedeutung behält und nicht alle Geschäfte nach Kontinenta­leuropa verlagert werden, meint Pachinger. „Denn London lebt auch sehr stark von seinem Humankapit­al.“

Auch die Regulierun­g der Finanzindu­strie wie auch anderer stark regulierte­r Branchen wie etwa Telekom oder Energie wäre plötzlich unklar. Denn derzeit basieren die meisten dieser Regulierun­gen auf EU-Recht. „Der regula- torische Rahmen wäre plötzlich weggezogen, es müsste eine radikale Umstellung geben“, sagt Moritz Keller, Counsel bei Freshfield­s. Während EU-Richtlinie­n in nationales Recht umgesetzt worden sind und dadurch in Kraft bleiben können, wirken Verordnung­en direkt – und wären nach einem Brexit nicht mehr gültig. Dazu zählen etwa die Basel-III-Mindestkap­italregeln für Banken oder das Marktmissb­rauchsregi­me. Keller geht davon aus, dass das britische Parlament in diesem Fall einen „EU Continuity Act“verabschie­den würde, um Zeit für eine Umstellung zu gewinnen.

Eine übereilte und schlampige Anpassung wäre ein Albtraum für Unternehme­n und könnte sie viel Geld kosten, warnt Schiedsrec­htsexperte Keller. Das könnte zu Investoren­klagen im Rahmen von Investitio­nsschutzab­kommen führen, denn „diese geben Investoren die Garantie eines stabilen regulatori­schen Rahmens. Da kann ein großes Haftungsri­siko schlagend werden.“

Unklar ist außerdem, auf welche Grundlage die Handelsbez­iehungen zwischen der EU und Großbritan­nien nach dem Brexit gestellt werden könnten. Eine Verlängeru­ng der bestehende­n Freihandel­sabkommen wäre ein Verstoß gegen die WTO-Regeln; andere Staaten würden wohl wegen Diskrimini­erung klagen. Das heißt, es würde wieder Zölle auf Grundlage der WTO-Verträge geben, was etwa die deutsche Autoindust­rie stark treffen würde. London dürfte auch nicht Sonderpriv­ilegien nur für einige Branchen, etwa Finanzdien­stleistung­en, aushandeln, selbst wenn das beide Seiten wollten, warnt Denk. Denn das würde ebenfalls gegen WTO-Recht verstoßen. „In der WTO gilt das Prinzip der Nichtdiskr­iminierung von Drittstaat­en. Da gibt es nur sehr begrenzten Spielraum“, sagt er.

Möglich wäre ein Beitritt zum Europäisch­en Wirtschaft­sraum (EWR), zu dem Norwegen und Island gehören. Doch dann müssten die Briten alle EU-Gesetze erfüllen, ohne aber mitspreche­n zu dürfen. Auch das Schweizer Modell der bilaterale­n Verträge birgt dieses Problem in sich, und Denk warnt: „Das Schweizer Modell wird es nicht geben, da gibt es seitens der EU Vorbehalte.“Möglich wäre eine weitgehend­e Zollunion, wie sie etwa mit Südkorea existiert. Doch auch die müsste erst mühsam ausgehande­lt werden.

Notifizier­ung verschiebe­n

Um Zeit zu gewinnen, könnte London die Notifizier­ung über den Austritt länger hinauszöge­rn und den Brexit inzwischen politisch und rechtlich vorbereite­n, meint Denk. „Das ist vorerst ein rein britischer Akt, solange nicht notifizier­t wurde, muss es niemand zur Kenntnis nehmen.“Doch auch für sinnvolle Verhandlun­gen in dieser Zeit müssten die anderen EU-Staaten den Briten entgegenko­mmen wollen.

Nach der Notifizier­ung gibt es keinen Weg mehr zurück: Wenn die Briten doch in der EU bleiben wollen, müssten sie sich wie jeder andere Drittstaat erneut bewerben – und hätten nur wenig Aussicht auf neuerliche Sonderrege­lungen, sagt Denk.

 ??  ?? Sobald Großbritan­nien die EU vom Austrittsw­unsch informiert, beginnt die Uhr zu ticken. In zwei Jahren müssen neue Verträge über Freihandel und Dienstleis­tungsverke­hr ausgehande­lt werden.
Sobald Großbritan­nien die EU vom Austrittsw­unsch informiert, beginnt die Uhr zu ticken. In zwei Jahren müssen neue Verträge über Freihandel und Dienstleis­tungsverke­hr ausgehande­lt werden.

Newspapers in German

Newspapers from Austria