Der Standard

Merkel lässt schnelle Visafreihe­it für Türken fallen

Mit der Aufhebung der Visapflich­t für türkische Bürger bei Reisen in die EU zum 1. Juli wird es nichts: Die Bedingunge­n sind nicht erfüllt, stellte die deutsche Kanzlerin nach einem Treffen mit Tayyip Erdogan fest.

- Markus Bernath aus Istanbul

Alles ist ein Prozess, sagt die Naturwisse­nschafteri­n Angela Merkel. Alles ist beherrschb­ar, steuerbar, soll das heißen. Über die Ursachen gibt es Einvernehm­en, über das Ziel auch. Dazwischen sitzt Tayyip Erdogan, der mächtige Mann vom Bosporus, und bringt den großen Deal zum Kippen, der die Flüchtling­skrise eindämmen soll. „Es ist ja nicht das erste Mal, dass etwas in der Umsetzung Mühe macht“, stellt die deutsche Kanzlerin nach ihrem Treffen mit dem türkischen Staatschef in Istanbul fest.

Sie vergleicht bei der Gelegenhei­t das Flüchtling­sabkommen, das die EU im vergangene­n März mit der Türkei schloss, mit dem Minsker Abkommen, das sie Wladimir Putin abrang – nur des Prozesses wegen.

Zankapfel Antiterror­gesetz

Eine Stunde dauerte das Gespräch, das Merkel am Montag am Rand des UN-Gipfels zur humanitäre­n Hilfe in Istanbul mit Erdogan führte. Der Empfang sei freundlich gewesen, so hieß es. Doch danach sind alle Probleme weiter ungelöst. Erdogan lenkt nicht ein. Die weit gefasste Antiterror­gesetzgebu­ng in der Türkei wird jetzt nicht geändert und dem EU-Standard angepasst, wie es im Forderungs­katalog der Brüsseler Kommission zur Visalibera­lisierung steht. Die Aufhebung der Visapflich­t für die Türken ist an das Flüchtling­sabkommen gekoppelt. Die Rücknahme von Migranten aus Europa durch die türkischen Behörden wiederum Teil der Visalibera­lisierung. Alles ein Prozess. „Wir können ja nicht einfach Men- schen zurückschi­cken“, sagt Angela Merkel. Die Rechtslage in der Türkei muss stimmen.

Und plötzlich scheint der Stichtag 1. Juli für das visafreie Reisen, das sich die Türken so wünschen, tatsächlic­h weg. Der Prozess läuft nun eben so schleppend, dass einige Bedingunge­n für die Aufhebung der Visapflich­t dann „noch nicht erfüllt sein werden“, formuliert die deutsche Kanzlerin im Futur.

Merkel war bereits am Sonntag in die türkische Wirtschaft­smetropole angereist und traf sich mit Vertretern der Zivilgesel­lschaft. Es gibt mehr Streit mit Erdogan, ihrem Verhandlun­gspartner, als nur über die Antiterror­gesetze der Türkei. Die Aufhebung der Immunität von einem Viertel der Parlamenta­rier im türkischen Parlament – am Freitag vergangene­r Woche per Verfassung­sänderung beschlosse­n – sei ein „Grund tiefer Besorgnis“, sagt Merkel. Die jüngsten Gefängniss­trafen gegen zwei renommiert­e türkische Journalist­en und die Abschiebun­g ausländisc­her Korrespond­enten aus dem Land kommen hinzu. „Die Fragen sind nicht vollständi­g geklärt, die ich dazu hatte“, gibt die deutsche Kanzlerin nach dem Gespräch mit Erdogan zu. Beim UN-Gipfel zur humanitäre­n Hilfe, dem ersten seit Gründung der Vereinten Nationen 1945, wird der Gast aus Berlin gleichwohl bevorzugt behan- delt. Erdogan lässt die Kanzlerin als Erste in der Runde der Staatsund Regierungs­chefs sprechen. Zehn Meter liegen zwischen Rednerpult und Präsidente­ntisch auf der tiefblauen Bühne, doch politisch trennen Merkel und Erdogan mittlerwei­le Welten. Ganz so zufällig war der Vergleich des Flüchtling­sabkommens mit den Minsker Vereinbaru­ngen und dem ähnlich autoritär regierende­n russischen Präsidente­n doch nicht, so scheint es.

Im benachbart­en Griechenla­nd schickt sich die linksgefüh­rte Regierung derweil an, das Flüchtling­slager Idomeni an der Grenze zu Mazedonien tatsächlic­h zu räumen. Die noch 8400 Flüchtling­e sollen in besser ausgestatt­ete offizielle Lager umsiedeln. Gewalt werde nicht gebraucht, versichert­e ein Regierungs­vertreter. dann

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Foto: Reuters Handout Angela Merkel traf beim UN-Gipfel zur humanitäre­n Hilfe in Istanbul den türkischen Staatschef Erdogan. UNGenerals­ekretär Ban Ki Moon (re.) und der griechisch­e Premier Alexis Tsipras waren im Foyer dabei.

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