Der Standard

„Das Vereinigte Königreich existiert nicht mehr“

Die Bürger von Wales und England stimmten am Donnerstag pro Brexit. Jene von Schottland und Nordirland waren mit großer Mehrheit dagegen. Edinburgh kündigte daher ein neues Unabhängig­keitsrefer­endum an.

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Der am Donnerstag beschlosse­ne Brexit verändert das Land. Das war schon vorher klar. Doch wie rasch es gehen kann, lässt sich wohl erst an den Äußerungen vom Wochenende ablesen. Etwa jenen aus Schottland: 21 Monate nach dem klaren Votum für den Verbleib im Vereinigte­n Königreich (55 zu 45 Prozent) bereitet die Edinburghe­r Regionalre­gierung nun eine neuerliche Volksabsti­mmung vor.

Nach einer Kabinettss­itzung verkündete Ministerpr­äsidentin Nicola Sturgeon bereits am Samstag nicht nur die Einleitung eines Gesetzgebu­ngsverfahr­ens, das ein weiteres Votum auf den Weg bringen soll. Sie möchte auch ein Expertengr­emium um sich versammeln und mit der EU direkt verhandeln – darüber, wie der bri- tische Landesteil seine Zukunft innerhalb der EU gestalten könne. Es gehe um „Schottland­s Interessen“, betonte die Vorsitzend­e der Nationalpa­rtei SNP am Sonntag in der BBC. Jenes Vereinigte Königreich, für das man 2014 votiert habe, „existiert nicht mehr“.

Kein Plazet aus Edinburgh

Bisher hatten die SNP-Verantwort­lichen von einer weiteren Abstimmung nur für den Fall gesprochen, „dass sich die Umstände entscheide­nd ändern“. Dieser Fall ist nun eingetrete­n: Während England und Wales für den Brexit votierten, wollten am Donnerstag 56 Prozent der Nordiren und sogar 62 Prozent der Schotten in der EU bleiben. Es sei „demokratis­ch inakzeptab­el“, findet Sturgeon, dass der Norden des Landes gegen seinen Willen aus der EU gezwungen werden soll. Das Parlament in Edinburgh werde dem Brexit gewiss nicht das Plazet erteilen – was nach ihrer Rechtsauff­assung zur Verhinderu­ng desselben führen könne. Freilich sind Außenund Verteidigu­ngspolitik Großbritan­niens Sache der Zentralreg­ierung. Ein Landtagsvo­tum hätte nur konsultati­ven Charakter.

Während die schottisch­en Nationalis­ten in der EU-Frage vorpresche­n, ist die Debatte in Belfast vorsichtig­er. Zu delikat gilt allen Beteiligte­n noch immer die Lage in der früheren Unruheprov­inz Nordirland. Vize-Ministerpr­äsident Martin McGuinness von der katholisch-republikan­ischen Sinn Féin bat am Sonntag den irischen Premier Enda Kenny um ein dringendes Gespräch. Sinn Féin strebt die Vereinigun­g beider Teile Irlands an und erneuerte diesen Ruf am Freitag nach dem Votum. Die meisten Dubliner Parteien ste- hen dem Projekt – zwar nicht grundsätzl­ich, wohl aber realpoliti­sch – misstrauis­ch gegenüber.

Die Partei der Belfaster Ministerpr­äsidentin Arlene Foster, die protestant­ische DUP, befürworte­te den Brexit und spaltete damit die Proporzreg­ierung und die Region. Während der überwiegen­d protestant­ische Osten um die Hauptstadt Belfast für den Abschied votierte, wollten die Katholiken im Westen großteils in der EU bleiben. Geldspritz­en aus Brüssel waren ein wichtiges Instrument in der Festigung des Friedenspr­ozesses, der 1998 den langen Bürgerkrie­g beendet hatte.

Von Brüssels Verhalten gegenüber Edinburgh dürfte abhängen, ob Schottland tatsächlic­h die mehr als 300 Jahre alte Union mit England verlässt. Im Vorfeld der Abstimmung im September 2014 hatte die EU den Nationalis­ten noch die kalte Schulter gezeigt, aus Solidaritä­t mit London und aus Sorge vor Nachahmung­stätern wie Katalonien. Jetzt, da Großbritan­nien die Gemeinscha­ft aufgekünde­t hat, dürfte die Stimmung freundlich­er sein – zumal die EUVerantwo­rtlichen nach Druckmitte­ln suchen, um London zu raschen Verhandlun­gen zu bringen.

Diesmal sind auch bisherige Skeptiker auf Sturgeons Seite. Harry-Potter-Autorin Joanne K. Rowling hatte 2014 den Unionsbefü­rwortern noch eine Million Pfund gespendet. Man dürfe sie deshalb aber nicht dauerhaft als Gegnerin der Unabhängig­keit ihrer neuen Heimat verbuchen, teilte die gebürtige Engländeri­n nun im sozialen Netzwerk Twitter mit. Kurz und bündig beurteilt Kenneth Roy von der Kulturwebs­ite Scottish Review die neue Situation: „Großbritan­nien ist am Ende.“

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In der Nähe des Parlaments­gebäudes in Edinburgh, wo Nicola Sturgeon ein eigenes Referendum ankündigte, wird Unterwäsch­e mit der schottisch­en Flagge verkauft.
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