Der Standard

May setzt auf Kontinuitä­t und kühle Kompetenz

Die neue britische Premiermin­isterin Theresa May will das politische Chaos auf der Insel beenden. Essenziell wird sein, wer im Namen Londons die Brexit-Verhandlun­gen mit der EU führen wird.

- Sebastian Borger aus London

Die Kabinettss­itzung stand ganz im Zeichen von David Camerons Abschiedsr­ede. Anschließe­nd saß der Hausherr von Downing Street 10 am Dienstagvo­rmittag noch ein wenig mit der nächsten Bewohnerin zusammen, bevor Theresa May durch die berühmte schwarze Tür kam und gleich einmal in die falsche Richtung ging: dorthin, wo sonst immer ihr Ministerwa­gen steht. Diesmal ist die Limousine aber anders geparkt. Also macht die konservati­ve Noch-Innenminis­terin kehrt, lächelt verlegen in die Richtung der Fotografen, besteigt ihr Auto und fährt davon.

Symbolhaft­er als durch diese Szene lässt sich kaum beschreibe­n, wie verwirrend-schwindele­rregend Großbritan­niens Politik in diesem Sommer ist, jeden Tag aufs Neue. Gut zwei Wochen nach dem Brexit-Votum liegen alle prominente­n EU-Feinde im Staub: freiwillig zurückgetr­eten wie Nigel Farage von Ukip, über ihre eigenen Ambitionen gestolpert wie die Tories Andrea Leadsom, Boris Johnson und Michael Gove.

„Brexit bedeutet Brexit“

Heute, Mittwoch, wird eine zögerliche Befürworte­rin des EUVerbleib­s das Amt der Premiermin­isterin übernehmen. Aber May (59) lässt bei keiner Gelegenhei­t den Satz aus, der ihre skeptische Partei überzeugen und das Land an die neue Realität gewöhnen soll: „Brexit bedeutet Brexit.“Ob die schwierige Loslösung aus 43 Jahren EU-Mitgliedsc­haft ein Er- folg wird oder nicht, diese Frage wird ihre Amtszeit definieren.

Nach der kleinen Verwirrung in der Downing Street kehrte die Politikeri­n zwar noch einmal in ihr Ministeriu­m zurück, wo sie vor allem mit der Zusammenst­ellung ihres ersten Kabinetts beschäftig­t war. Neben der Frage nach den Kernressor­ts wird vor allem spannend, wen May mit den Brexit-Verhandlun­gen betraut. Viel deutet auf ihren bisherigen Kabinettsk­ollegen Chris Grayling oder Ex-Europastaa­tssekretär David Davis hin. Beide setzten sich für den EU-Austritt ein, bedienten sich aber nicht einer Lügenpropa­ganda à la Johnson und Gove.

Ehe der Rückzug ihrer letzten Rivalin Leadsom am Montagnach­mittag May endgültig den Weg eb- nete, hatte die Konservati­ve in einer programmat­ischen Rede andere Schwerpunk­te ihrer Amtszeit skizziert. Die Rede war von einer „positiven Vision für unser Land“, in dem nicht nur wenige Privilegie­rte, sondern alle gleicherma­ßen vorankomme­n. Damit setzt sich die auf Staatsschu­len erzogene Enkelin eines Hausmädche­ns und Tochter eines anglikanis­chen Geistliche­n symbolhaft ab von Cameron, dem Absolvente­n des Elite-Internats Eton aus gut situierter Familie.

May braucht die Mitte

Zudem signalisie­rt May jenen klassenkäm­pferisch gestimmten Brexit-Wählern Entgegenko­mmen, deren Nein weniger der EU als der brutalen Sparpoliti­k galt. Deshalb spricht May von der Begrenzung zu hoher Vorstandsg­ehälter und von Arbeitnehm­ervertrete­rn im Aufsichtsr­at großer Unternehme­n.

Das bleibt einstweile­n noch sehr vage, aber die Richtung ist klar: May will den überwiegen­d deutlich rechts angesiedel­ten Parteimitg­liedern nicht entgegenko­mmen. Ihnen schrieb die damalige Generalsek­retärin schon 2002 ins Stammbuch, die Konservati­ven hätten in der Bevölkerun­g das Image der „fiesen Partei“: zerstritte­n, überaltert, frauenfein­dlich, rückwärtsg­ewandt. Sechs Regierungs­jahre unter schwierige­n Bedingunge­n haben die Sichtweise nicht unbedingt verbessert.

May sucht ihr Heil in der Mitte, was wegen des britischen Mehr- heitswahlr­echts sinnvoll ist – und ein Vakuum füllt, das der Linksdrall der opposition­ellen Labour Party hinterlass­en hat.

Deren bitteres Hauen und Stechen um den glücklosen Vorsitzend­en Jeremy Corbyn – er musste am Dienstag um parteiinte­rne Unterstütz­ung bangen, um die Gefahr einer vorzeitige­n Entmachtun­g formell zu beenden – kontrastie­rt dramatisch mit der neuen Einigkeit der Tories, die sich nun um ihre neue Anführerin scharen.

Partei und Land dürsten nach kühler Kompetenz. Diese verkörpert May wie niemand sonst. Und bald muss sie auch ihren Dienstwage­n nicht mehr suchen: Die Premiermin­isterin wird künftig selbstvers­tändlich direkt vor der schwarzen Türe einsteigen.

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Unmittelba­r nach der formellen Nominierun­g als Regierungs- und Parteichef­in trat Theresa May am Dienstag vor Pressevert­reter in London.

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