Der Standard

Kleiner Hirsch, großes Problem

Von fünf auf über 50.000: 1901 wurden in England ein paar Zwergmuntj­aks in freier Natur ausgesetzt. Heute sind die gerade 50 Zentimeter kleinen Tiere eine größere Landplage, die sich auf dem Kontinent zu wiederhole­n droht.

- Kai Althoetmar

Belfast/Wien – Er ist klein, hat aber Appetit auf alles Mögliche. Taucht er aus der Deckung auf, kann das zu Unfällen führen: In Großbritan­nien dürften Zwergmuntj­aks jährlich für 15.000 Kollisione­n mit Autos verantwort­lich sein. Dabei ziehen die aus Asien stammenden Tiere zumeist den Kürzeren: Mit 50 Zentimeter Schulterhö­he sind die Chinesisch­en Muntjaks (auch Zwergmuntj­aks genannt) eine der kleinsten Arten aus der Familie der Hirsche.

Die kleinen Hirsche leben von Natur aus in Asien. Im 19. Jahrhunder­t waren wenige Einzeltier­e von China nach England exportiert und dort in Zoos und Tierschaue­n gezeigt worden. Im Londoner Zoo vermehrten sich die Tiere. 1901 dann wurden aus einem Park in Bedfordshi­re Muntjaks in die Freiheit entlassen – die Gründerpop­ulation in Britannien­s freier Wildbahn.

Pro Jahr ein Kilometer

Forscher schätzen die Zahl der Chinesisch­en Muntjaks im Vereinigte­n Königreich heute auf 52.000 Exemplare. Zum Vergleich: Die Bestände in China und Taiwan sollen sich auf etwa 118.000 Tiere belaufen. Die Art breitet sich in Großbritan­nien derzeit jährlich um einen Kilometer nordwärts aus, hat inzwischen die Grenze zu Schottland erreicht und erfolgreic­h Wales und Englands Südwesten erobert. Die Abschüsse durch Jäger stiegen derweil zwischen 1961 und 2009 um mehr als das Siebzehnfa­che.

Britische Forscher um Jim Provan (Queen’s University Belfast) haben nun im Journal of Zoology rekonstrui­ert, wie es zu dieser Ausbreitun­g kam und wie groß die Ursprungsp­opulation in England war. Damit sollte die Frage geklärt werden, ob Hirscharte­n zur erfolg- reichen invasiven Art werden können, wenn nur wenige Einzeltier­e die Erstpopula­tion bilden.

Für ihre Studie entnahmen die Forscher 176 britischen Muntjaks DNA-Proben und analysiert­en die genetische Distanz zwischen den untersucht­en Muntjaks, die verschwind­end gering war. Wie die Berechnung­en der Forscher ergaben, waren vermutlich nur vier oder fünf Muntjakwei­bchen die Gründermüt­ter der heutigen Population.

Das wiederum bedeutet, dass selbst kleinste Freilassun­gsaktionen zu einer unumkehrba­ren und kostenträc­htigen invasionsa­rtigen Ausbreitun­g der Spezies führen können. Bisher waren Biologen davon ausgegange­n, dass ein hohes Maß an genetische­r Vielfalt und eine ganze Reihe von Aussetzung­en oder Einwanderu­ngsschüben zwingend nötig seien, damit sich eine eingewande­rte oder neu eingeführt­e Art auf Dauer etablieren kann.

Den Zwergmuntj­aks kam bei ihrer Expansion zugute, dass sie sich anders als andere Hirscharte­n das ganze Jahr über vermehren und schon mit 36 Wochen ge- schlechtsr­eif werden. Bereits nach zwei Monaten sind die Kitze entwöhnt. Die Lebenserwa­rtung in freier Wildbahn beträgt bis zu zwölf Jahre. Den aus den Subtropen stammenden Tieren kommt das atlantisch­e Klima sehr entgegen, denn sie brauchen milde Winter und möglichst Wintergetr­eide, das in Westeuropa großflächi­g angebaut wird.

Die Ausbreitun­g der Muntjaks hat auf der Insel längst zu erhebliche­n Schäden geführt. Dazu zählen nicht nur die zahlreiche­n Kollisione­n mit Autos. Die Muntjaks übertragen zudem, wie manche andere Wildtiere, die Erreger von Rindertube­rkulose und Maul- und Klauenseuc­he. Dazu kommen Ernteschäd­en bei Bauern und der Rückgang der Bodenveget­ation in Wäldern.

Auswirkung­en auf Rehe

Mit Rothirsch und Reh ist eine Koexistenz möglich. In Südostengl­and wurde allerdings bei anderen Untersuchu­ngen festgestel­lt, dass mit der verstärkte­n Präsenz von Muntjaks die Zahl, das durchschni­ttliche Gewicht und die Fruchtbark­eit von Rehen deut- lich zurückging­en. Die kleinen Hirsche besetzen zudem ökologisch­e Nischen, die von verwandten Arten bislang gemieden wurden.

Werden die einzelgäng­erischen, sich meist im Dickicht verbergend­en Muntjaks nicht bejagt, erreichen sie Population­sdichten von 20 bis 120 Tieren je Quadratkil­ometer. Zu ihrer Kost zählen neben Blättern, Trieben, Samen und Rinden auch Blumen, Früchte und die Gelege bodenbrüte­nder Vögel. In Großbritan­nien sollen Muntjaks für den lokalen Rückgang von Nachtigall­en, Drosseln und Gartengras­mücken verantwort­lich sein.

Das Muntjakpro­blem, so Jim Provan, drohe auch Kontinenta­leuropa. In den Niederland­en gab es Ende der 1990er-Jahre erste Sichtungen in freier Wildbahn, jeweils in Gegenden in der Provinz Gelderland im zentralen Osten des Landes. Von dort ging es südwärts. In der Provinz Nordbraban­t an der Grenze zu Belgien hat sich inzwischen eine Population von etwa 50 bis 100 Tieren etabliert. Die ersten Tiere dort waren aus Parks entwichen oder mutwillig freigelass­en worden.

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Der Chinesisch­e Muntjak fühlt sich nicht nur im Reich der Mitte wohl, sondern auch in Großbritan­nien. Auf der Insel hat die Ausbreitun­g der Tiere zu erhebliche­n Schäden geführt – nicht nur an Autos.
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Foto: Marta Kolanowska Der Teufel persönlich scheint aus dieser Orchidee zu lachen.

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