Türkische „Hexenjagd“auf Journalisten spitzt sich zu
Dündar nach Morddrohung im Exil – Solidaritätsaktionen
Er ist das bekannteste Gesicht des Widerstandes gegen die Repression in der autoritär regierten Türkei: Can Dündar, Chefredakteur der Tageszeitung Cumhuriyet, die als größtes mediales Bollwerk gegen Präsident Tayyip Erdogan gilt. Dieser Tage aber ist es vor allem Dündars Abwesenheit, die für Schlagzeilen sorgt.
Von außen ähnelt Cumhuriyet mehr einem Gefängnis als einer Redaktion: Umzäunt wird sie von einem gut zwei Meter hohen Gitter, eine Handvoll bewaffneter Sicherheitsmänner bewacht den Eingang. Wer hinein möchte, muss eine Sicherheitsschleuse passieren. Im Mai war Dündar wegen der Veröffentlichung geheimer Dokumente zu fünf Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt worden, sein Ankara-Büroleiter Erdem Gül erhielt eine fünfjährige Gefängnisstrafe. Ihr Artikel war ein regelrechter Coup: Sie zitierten Quellen, laut denen der türkische Geheimdienst illegale Waffentransporte an islamische Extre- misten in Syrien geschickt haben soll. Zwar hat das Verfassungsgericht ihre Freilassung angeordnet, die Bestätigung der Verurteilung in zweiter Instanz gilt aber als sicher. Kurz vor der Urteilsverkündung schoss ein Mann vor dem Gerichtsgebäude auf Dündar. Danach erhielt er Morddrohungen, weshalb der vorübergehend seine Funktion abgetreten und sich für zwei Monate ins Ausland abgesetzt hat. „Was danach passiert, weiß niemand“, sagt Dündars interimistischer Stellvertreter Aydin Engin. Dündar spricht von „Hexenjagd auf Journalisten“.
35 Journalisten in Haft
Dündar ist der prominenteste Fall, aber bei weitem nicht der einzige. 35 Journalisten sitzen derzeit laut Turgay Olcayto, Vorstand des türkischen Journalistenverbandes, in Haft. Er fordert eine Reform des türkischen Strafrechts, vor allem jener Paragrafen, die am Papier der Verfolgung von Terroristen dienen sollen, derzeit aber zum Vorgehen gegen politische Gegner und unliebsame Journalis- ten missbraucht werden. Dazu kommen an die 2000 Verfahren wegen „Beleidigung des Präsidenten“, seitdem Erdogan im August 2014 das Amt antrat.
Hinzu kommt der finanzielle Druck: Medien kassieren Geldstrafen, öffentliche Anzeigen fallen weg, Unternehmen ziehen ihre Werbung aus Angst zurück. In einem derartigen Klima stellt bereits das Weitermachen eine Form des Widerstandes dar. Oder die Solidarität mit den Verfolgten: Neuerdings prangt auf den Titelseiten der oppositionellen Medien die Botschaft „Journalismus ist kein Verbrechen“. Bereits zuvor hatten Journalisten, Aktivisten und andere türkische Prominente damit angefangen, jeweils für einen Tag die Leitung von Zeitungen zu übernehmen, die besonders stark unter der Repression leiden. Gegen die kurdisch-türkische Zeitung Özgür Gündem etwa wurden wegen ihrer Berichte über Kämpfe im Südosten des Landes 150 Verfahren eingeleitet. Evrensel flatterten allein in den letzten sechs Wochen fünf Anzeigen ins Haus – unter anderem, weil die Redakteure trotz Nachrichtensperre über den Anschlag auf den Instanbuler Flughafen berichtet hatten.
Der TV-Sender IMC hingegen verlor mit einem Schlag die Hälfte seiner Zuseher, als er nach einem Interview mit einem PKKSprecher vom Satelliten- und Kabelnetz Türksat genommen wurde. Berkant Gültekin, leitender Redakteur des Tageszeitung BirGün und ebenfalls wegen Präsidentenbeleidigung angeklagt, sagt: „Wir kämpfen für Demokratie – das motiviert am Ende mehr, als es angsteinflößend ist.“