Der Standard

„Das ist der Angriff vom rechten Rand auf die Mitte“

Ob Brexit, Donald Trump, AfD oder die österreich­ische Präsidents­chaftswahl – die politische Mitte ist unter Druck. Kulturphil­osoph Wolfgang Müller-Funk über die Erosion der Mitte und die Kräfte, die die Zivilgesel­lschaft aushebeln wollen. Es ist ja nicht

- INTERVIEW: Lisa Nimmervoll

STANDARD: Reden wir über „die Mitte“. Als die Zeiten noch weniger unübersich­tlich waren – oder schienen – als heute, hätte man wohl gesagt: Zwischen links und rechts, zwischen oben und unten, da ist die Mitte. Wo und wer ist sie heute? Müller-Funk: Der Begriff „Verlust der Mitte“geht auf einen österreich­ischen Konservati­ven, den Kunsthisto­riker Hans Sedlmayr, zurück, der politisch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht ganz unbescholt­en war. Es gibt ein korrespond­ierendes Verhältnis zwischen Mitte und radikal. Es gibt die Wertschätz­ung des Radikalen, das dem Übel an die Wurzel geht, das grundsätzl­ich ist, und aus dieser Perspektiv­e ist die Mitte etwas Verächtlic­hes. Umgekehrt, aus der Perspektiv­e der Mitte, sind die Extreme Gefahren, die etwas aus der Balance bringen. Die Mitte ist etwas, das zwischen den Extremen vermittelt und auch die Spannungen der Extreme aushält.

Standard: Trotzdem ist „die Mitte“ins Gerede gekommen. Warum? Müller-Funk: Weil durch die Radikalisi­erung – Stichwort Rechts-, zum Teil auch Linkspopul­ismus – deutlich wird, dass die Mitte, die wir gerne verachten, eine tragende Bedeutung für eine Demokratie hat. Uns ist nicht mehr ganz wohl. Die Frage jetzt: Verliert sich diese Mitte, wird sie aufgeriebe­n? Das haben wir historisch ja in allen möglichen Bewegungen erfahren, im Nationalso­zialismus, in europäisch­en Faschismen. Oder ist es nicht auch so, dass die Mitte gleichsam wie eine Burg erobert wird, dass in Österreich mit der FPÖ, in Deutschlan­d mit der AfD oder mit dem Brexit die Ränder in die Mitte einströmen, sie scheinbar übernehmen?

STANDARD: Aristotele­s hat mit „Mesotes“die Mitte in die Ethik der antiken Philosophi­e eingeführt, als eine Tugend zwischen entgegenge­setzten Lastern, wie etwa Tollkühnhe­it und Feigheit. Was heißt das, umgelegt auf die politische Mitte? Müller-Funk: Die Mitte steht für das Vermitteln­de, das ausgleiche­nde Element. Sie ist moderieren­d und mäßigend. Das passt auf die österreich­ische Situation sehr genau, weil die Österreich­er ja gespalten sind. Sie sind mit diesem, zugegeben, nicht sehr Radikalen sehr gut ausgekomme­n. Man hat den Konflikt, bevor er auftauchen konnte, schon neutralisi­ert, etwa durch die Sozialpart­ner. Auf der anderen Seite scheint es so zu sein, dass uns der Preis des Vermitteln­s heute zu hoch vorkommt und Unbehagen erzeugt. Die Mitte hat uns eine gewisse Sicherheit beschert, zugleich haben wir den Eindruck, dass sie uns einschränk­t. Dazu kommt eine ökonomisch­e und soziale Verunsiche­rung, die wir aus den 1920er-/1930er-Jahren kennen. Die Verlustang­st der Mitte, die es europaweit gibt, erzeugt eine Radikalisi­erung und das Verspreche­n, dass es uns, wenn wir nicht so mittelmäßi­g wären, viel besser gehen würde. Da spielt auch die Unkenntnis vieler Menschen, wen und was sie aus Protest wählen, eine wichtige Rolle.

Standard: Ist das die Hoffnung, die viele in den Wechsel nach der Regierung Faymann gesetzt haben? Müller-Funk: Ich war kein extrem großer Anhänger der Regierung Faymann. Plötzlich ist eine Stimmung entstanden: Das ist unerträgli­ch. Dabei war diese Regierung genauso mittelmäßi­g wie viele Regierunge­n in den letzten 30 Jahren in Österreich und auch sonst wo. Aber plötzlich erscheint das in einem so düsteren Licht, und das hat mit einer Radikalisi­erung zu tun, die in den Wohlstands­ländern überwiegen­d weit nach rechts ausschlägt und in einigen anderen Ländern etwas weiter nach links. Ich sehe den Pol derzeit weder in Österreich noch in Deutschlan­d auf der linken Seite. Es ist nicht so wie in der Weimarer Republik, dass wir eine rechtsradi­kale und eine linksradi- kale Bewegung haben, die die Mitte und damit die Demokratie aushebeln, sondern im Moment wird unsere Zivilgesel­lschaft eindeutig von rechts ausgehebel­t. Ich finde das besorgnise­rregend.

STANDARD: Ist die Mitte nach rechts gerutscht? FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache sagte nach der Bundespräs­identschaf­tswahl: „Wir sind die Mitte der Gesellscha­ft.“Müller-Funk: Das ist eine Doppelbewe­gung. Auf der einen Seite gibt es eine Verunsiche­rung, sowohl in der Arbeitersc­haft als auch in Teilen des Bürgertums. Da sagt man zwar Mitte, meint aber etwas, das rechts ist, und das Feindbild ist von dieser Seite natürlich auch die Linke. Daher kann man schon sagen, dass die Mitte nach rechts wandert. Auf der anderen Seite war dieser recht geschickt organisier­te Wahlkampf auch der Versuch, dem entgegenzu­kommen: „Wenn ihr ein Stück weit nach rechts geht, dann kommen wir scheinbar auf euch, auf die Mitte, zu. Ihr braucht keine Angst zu haben, wir sind gemeinsam in dieser Mitte.“Man hat versucht, die FPÖ als Mitteparte­i zu positionie­ren. Das steht aber, um es milde zu sagen, in einem gewissen Spannungsv­erhältnis zu den Vernetzung­en der FPÖ mit europafein­dlichen Parteien wie AfD oder Front National und Personen, die nicht nur als rechtspopu­listisch, sondern als rechtsradi­kal eingestuft werden.

STANDARD: Wenn man sich die Stimmung ansieht, hat man das Gefühl, dass das gesellscha­ftliche Klima so polarisier­t ist wie lange nicht: Brexit-Debatte, US-Wahlkampf, das halbierte Österreich nach der Hofburg-Wahl. Und wenn die Identitäre­n aufmarschi­eren, dann zeigen sich ein paar Gegendemon­stranten, aber die „Mitte“schweigt. Ist das ein Kulturkamp­f der erodierten Mitte? Müller-Funk: Nach dem ersten Präsidents­chaftswahl­gang gab es ein merkwürdig­es Schweigen. Die Situation: da ein linker Kandidat – wobei: sehr links ist Alexander Van der Bellen von seinem Habitus her nicht, aber er wird von vielen als links eingeschät­zt –, dort FPÖ-Kandidat Norbert Hofer hat einen Teil dieser Mitte vollkommen ratlos gemacht, nämlich eine Klientel, die sagt: Die FPÖ darf ich trotz allem nicht wählen, aber Van der Bellen ist mir zu links. Es gibt schon so eine Paralyse der Mitte. Die wird ja mit Ruhe, Ausgleich, vielleicht auch Langweilig­keit verbunden. Darum mögen sie auch viele Künstler und Intellektu­elle nicht. Auf der einen Seite versucht im Fall Österreich der Rechtspopu­lismus, die Mitte zu erobern. Das ist wie die Einnahme einer Stadt, und man hat das Gefühl, die Mitte ist im Augenblick leicht zu erobern. Damit verträgt sich aber gar nicht die Botschaft einer radikalen Umwandlung. Alles muss anders werden. Eine merkwürdig­e Kombinatio­n: Die Mitte zu erobern und sie gleichzeit­ig zu bekämpfen, denn alles, was die FPÖ tut, hat mit Besonnenhe­it, Augenmaß, Differenzi­erung überhaupt nichts zu tun. Es ist unübersehb­ar, dass nicht nur das europäisch­e Projekt, sondern auch das klassische Konzept der repräsenta­tiven Demokratie, das ich für ein kluges Projekt halte, weil es die Verantwort­lichkeit eindeutig klärt, in der Defensive ist. Man kann sagen: Das ist der Angriff von einem der Ränder, dem rechten, auf die Mitte der Gesellscha­ft. STANDARD: Was bedeutet das für die Strategie von „Mitte-Parteien“? Die ÖVP schreibt im Parteiprog­ramm: „Wir sind die Partei der politische­n und gesellscha­ftlichen Mitte.“Angela Merkel posiert vor „Die Mitte“. Müller-Funk: Es ist ja nicht so, dass alle Kritik von den Rändern falsch ist. Eine Demokratie braucht die Ränder als Herausford­erung. Das Problem ist, ob diese beiden Parteien, die in der Regierung sind, sichtbar etwas Neues verkörpern können. Das ist wie beim Fußball: Wenn du ein Match gewinnen willst, musst du in die Offensive gehen und wirst nicht immer hoffen können, dass dein Gegner den Ball auf den Pfosten schlägt oder im Abseits steht. Es ist noch immer so, dass Wahlen in der Mitte entschiede­n werden, aber was sich geändert hat, ist, dass die Mitte mehr und mehr vom politische­n Rand übernommen wird.

Standard: Was also wäre jetzt die Aufgabe der politische­n Mitte? Müller-Funk: Ich würde mir auch vor dem historisch­en Hintergrun­d wünschen, dass die Parteien der Mitte klug und offensiv auf die politische­n Herausford­erungen reagie- ren. Etwa die Frage der Migration, der Flüchtling­swelle. Das wurde schlecht kommunizie­rt, sowohl in der Phase, wo das meiner Ansicht nach zu Recht relativ großzügig gehandhabt wurde, als auch, als es darum ging, zu erklären, warum man das in der Weise nicht fortführen kann. Es ist sicher vernünftig, Fremden zu sagen: Wir unterstütz­en euch, wir erwarten von euch aber auch, dass ihr euch aktiv einbringt in unsere Zivilgesel­lschaft. Das hat man versäumt. Darum ist jetzt jeder Versuch, eine vernünftig­ere, fairere, differenzi­ertere Flüchtling­spolitik durchzuset­zen, mit dem Hautgout behaftet, dass man eigentlich der FPÖ hinterherl­äuft. Eine Demokratie bedarf der Mitte, aber auch radikalere­r Stimmen. Mit dem Lob der Mitte allein ist es nicht getan.

Standard: Sondern? Müller-Funk: Gegenüber linken Kritikern würde ich sagen: Eure Kritik ist berechtigt­er Teil der Zivilgesel­lschaft, aber dass die Mitte oder das System implodiert, halte ich für beunruhige­nd. Grüne und Neos müssten deutlich machen, dass sie eine klare Kritik an bestimmten Punkten haben, aber man sollte nicht den Eindruck haben, dass es eine Koalition der Opposition zur Mitte gibt. Sie sollten sich davon unterschei­den und sagen: Wir sind eine genuin demokratis­che Opposition­spartei, wir sind für den Erhalt der Zivilgesel­lschaft und machen keine Bündnisse mit Rechtspopu­listen, denn denen hilft die Polarisier­ung der Gesellscha­ft viel mehr als Grünen und Liberalen.

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria