Der Standard

Der Blindflug durch die Putschnach­t

Das Versagen des Geheimdien­stes sei offensicht­lich, stellte der türkische Staatschef nach dem gescheiter­ten Putsch fest. In der kritischen Nacht traf Erdogan Entscheidu­ngen im Kreis von Familie und Freunden.

- Markus Bernath

Ankara/Athen – „Er ist ein Killer“, sagte ein griechisch­er Konzernche­f im Privaten einmal bewundernd über Tayyip Erdogan, den Präsidente­n des großen Nachbarlan­ds. In der Putschnach­t vom 15. Juli zeigte sich Erdogans Willensstä­rke. Mit einiger Kaltblütig­keit zog er die Türkei vom Rand eines vielleicht Wochen dauernden gewalttäti­gen Chaos und rettete dabei noch sich und seine Familie vor der möglichen Ermordung.

Die Erdogans machten Urlaub in Marmaris an der türkischen Mittelmeer­küste, als die Putschiste­n letzte Vorbereitu­ngen trafen. Am vergangene­n Samstag um drei Uhr am Morgen sollte die Regierung gestürzt und der Präsident gefangen oder gar umgebracht werden. Der türkische Geheimdien­st MIT durchkreuz­te den Zeitplan der Verschwöre­r. Hakan Fidans Mitarbeite­r waren am frühen Freitagnac­hmittag auf verdächtig­e Bewegungen der Armee aufmerksam geworden. Doch als die Putschiste­n zuschlugen, war Tayyip Erdogan ohne Verbindung zum wichtigste­n Mann im türkischen Sicherheit­sapparat, dem er vertraut.

Kriegsrat im Hotelzimme­r

„Ich habe meinen Geheimdien­stchef in jener Nacht angerufen, aber ich konnte ihn nicht erreichen“, sagte Erdogan in einem Interview mit Reuters in Ankara – seinem ersten nach der Verhängung des Ausnahmezu­stands. In der Putschnach­t war Erdogan zeitweise auf sich allein gestellt. Die kritischen Entscheidu­ngen, so lässt sich aus den nach und nach bekannt werdenden Details rekonstrui­eren, traf der Staatschef in einem Hotelzimme­r im Kreis von Familie und Freunden.

Fluchtwege wurden überlegt und wieder verworfen. Dass der Präsident ein Ziel der Putschiste­n sein würde, war schnell klar. Erdogan fragte Serkan Yazici, den Eigentümer des Luxushotel­s Grand Yazici in Marmaris, wo die Familie ihren Urlaub verbrachte, nach möglichen Routen auf dem Wasser. Erdogans Jet stand auf dem Flughafen von Dalaman, knapp 90 Straßenkil­ometer entfernt. Eine Marinebasi­s lag auf dem Weg dahin. Das machte eine Autofahrt zu riskant. Erdogan schloss sie aus.

„Ich sagte, es gibt eine griechisch­e Insel nahe Marmaris. Bis zu diesem Punkt war er sehr ruhig“, erzählte Yazici, der Hotelbesit­zer, dem Boulevardb­latt Posta. „Aber als er von der griechisch­en Insel erfuhr, wurde er wütend. ‚Was habe ich dort verloren?‘, sagte er, ‚Ich frage dich nach möglichen Strecken nach Istanbul‘.“

Riskanter Flug

Am Ende entscheide­t sich der Präsident für den Hubschraub­er – auch das ein riskantes Unterfange­n. Erdogans Frau Emine, die ältere Tochter Esra, deren Schwiegers­ohn Berat Albayrak und Erdogans drei Enkelkinde­r fliegen mit nach Dalaman und dann weiter im Jet nach Istanbul. Albayrak – er ist auch der Energiemin­ister – hatte zuvor einen Anruf erhalten, so erzählte Hotelbesit­zer Yazici. In Istanbul steigen Zivilisten mit türkischen Fahnen auf die Panzer. Er- dogans Aufruf über Facetime zum Widerstand funktionie­rt offenbar. Auch diese Informatio­n erhielt Erdogan offenbar nicht vom Geheimdien­st.

Erdogan überrascht­e diese Woche bereits mit der Eröffnung, sein Schwager, ein Geschäftsm­ann mit Verbindung­en, habe ihn gegen 20 Uhr am Freitag über den bevorstehe­nden Putsch unterricht­et. Dass Erdogan gar keinen Kontakt zum Geheimdien­stchef hatte, machte er jetzt erst bekannt. Als mögliche Erklärung gilt derzeit, dass Hakan Fidan von der Armeeführu­ng hingehalte­n wurde. Von 16 Uhr an stand er mit ihr an jenem Freitag in Kontakt. Es war nicht das erste Mal, dass es Hinweise auf einen Putsch gab. Fidan wollte keine Panik.

 ??  ?? Triumphzug über die Bosporusbr­ücke in Istanbul: Zehntausen­de marschiert­en in der Nacht zu Freitag über die Brücke, wo sich Zivilisten am 15. Juli den Panzern der Putschiste­n entgegenge­stellt hatten.
Triumphzug über die Bosporusbr­ücke in Istanbul: Zehntausen­de marschiert­en in der Nacht zu Freitag über die Brücke, wo sich Zivilisten am 15. Juli den Panzern der Putschiste­n entgegenge­stellt hatten.

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