Der Standard

Wie es Vanessa Sahinovic geht

Vanessa Sahinovic, die bei den Europaspie­len im Juni 2015 in Baku von einem Bus überfahren wurde und seither querschnit­tsgelähmt ist, kämpft um Mobilität und um eine Entschädig­ung, die noch immer aussteht.

- Fritz Neumann

Pforzheim/Wien – In der Reha-Klinik in Pforzheim ist gehen nicht gleich gehen. Wenn Vanessa Sahinovic mit dem sogenannte­n Lokomaten in der Stunde 2,6 Kilometer gegangen ist, dann gibt ihr das Berge. Dabei kommt Sahinovic, objektiv gesehen, nicht wirklich vom Fleck. Der Lokomat ist ein Therapiege­rät, das sozusagen ein Laufband mit einer kleinen Hebevorric­htung verbindet. Er hat sich, wie es heißt, „als wirksame Interventi­on zur Verbesseru­ng der Gehfunktio­n bei neurologis­chen Patienten etabliert“.

Vanessa Sahinovic (16) ist seit mehr als 13 Monaten eine neurologis­che Patientin. Seit 11. Juni 2015. Damals war sie in Baku, sie war Synchronsc­hwimmerin und Teil des Teams, das vom Österreich­ischen Olympische­n Comité (ÖOC) zu den Europaspie­len in die aserbaidsc­hanische Hauptstadt entsandt worden war. 6000 Sportlerin­nen und Sportler aus 50 Ländern nahmen an der Veranstalt­ung teil, die das IOC neben den noch größeren Olympische­n Spielen etablieren will. Österreich­s Delegation umfasste 143 Aktive und 79 Betreuer. Sahinovic, damals 15 Jahre alt, war Österreich­s jüngste Teilnehmer­in. Es hätte der erste Höhepunkt ihrer Karriere werden sollen.

Der schwere Unfall

Der Unfall passierte am Tag vor der Eröffnung. Ein Shuttlebus der Organisati­on – dessen Fahrer später angab, er habe die Pedale verwechsel­t – raste ungebremst in die Gruppe der österreich­ischen Synchronsc­hwimmerinn­en. Drei wurden verletzt, Luna Pajer erlitt einen Armbruch, Lisa Breit erlitt eine Oberschenk­elprellung, Sahinovic, die von dem Reisebus überrollt wurde, erlitt Mehrfachfr­akturen, u. a. einen Bruch des zwölften Brustwirbe­ls. Sie ist seit dem 11. Juni 2015 vom Nabel abwärts gelähmt.

Ein Jahr lang hat sich Sahinovic auf die Reha konzentrie­rt. Sie war in Bad Häring in Tirol, sie war in Pforzheim am Nordrand des Schwarzwal­ds in Baden-Württember­g. Ihre Mutter Azra war meistens an ihrer Seite. Vanessas vier Jahre jüngerer Bruder Benjamin, genannt Benny, ist dann daheim bei Vater Safet geblieben. Azra und Safet stammen aus Bos- nien, sie haben sich in Wien kennengele­rnt und geheiratet. Sie ist Verkäuferi­n ( H&M), er ist Monteur. Azra sagt: „Wir sind gut über die Runden gekommen, wir haben keine Schulden aufgebaut.“Ihre Wohnung in Wiener Neudorf gehört ihnen, doch die Wohnung liegt im zweiten Stock, und das ist ein Problem geworden, denn das Haus hat keinen Lift.

Im Herbst will Vanessa wieder „in die Schule gehen“, natürlich sagt sie „gehen“. Auch Rollstuhlf­ahrerinnen und Rollstuhlf­ahrer gehen einkaufen, ins Kino, gehen aus. Es wird ihre alte Schule in der Südstadt sein, sie steigt ein Jahr unter ihren ehemaligen Schulkolle­ginnen ein. Aber auch in ihrer neuen Klasse sitzt sie mit Mädchen zusammen, die sie vom Synchronsc­hwimmen kennt. Die Oberstufe dauert fünf Jahre, das lässt Schülerinn­en und Schülern mehr Zeit fürs Training. Vanessa wird die Zeit zur Reha nützen.

Ein neues Haus

Safet wird seine Tochter nicht ewig vom zweiten Stock hinunterod­er in den zweiten Stock hinauftrag­en können. Azra und er haben lange ein Grundstück gesucht, auf dem sie ein behinderte­ngerechtes Haus errichten können. Sie haben eines gefunden, die Baugenehmi­gung steht noch aus, und auch die Frage der Finanzieru­ng ist nicht wirklich geklärt.

Das ÖOC hatte Sahinovic und die anderen Sportlerin­nen und Sportler vor der Baku-Reise versichert und weist darauf hin, dass die Wiener Städtische als ÖOCPartner die zugesagte Höchstsumm­e (600.000 Euro) bereits „komplett ausbezahlt“hat. Dazu kommen 50.000 Euro aus dem ÖOCHilfsfo­nds (Heller-Stiftung) sowie 50.000 Euro aus Charity-Einnahmen, von denen 36.000 Euro bereits ausbezahlt sind.

Die Kosten der Reha-Einrichtun­gen, täglich mehrere hundert Euro, relativier­en die Summen. Und eine monatliche Invaliditä­tsrente, die Vanessa tatsächlic­h absichern würde, lässt sich mit den Einmalzahl­ungen nicht aufwiegen. Azra Sahinovic stößt sich daran, dass der Unfall ihrer Tochter – zumindest vorerst – als Freizeitun­fall bewertet wurde. Das unterschei­det Vanessa Sahinovic, wie berichtet, etwa von Kira Grünberg. Diese bezieht eine Rente, weil sie als Leistungss­portlerin beim Bundesheer angestellt war, als sie beim Stabhochsp­rungtraini­ng stürzte. Das AUVA-Verfahren von Sahinovic ist anhängig.

Seitens des ÖOC hat man mehrmals betont, dass Europaspie­leVeransta­lter Aserbaidsc­han in Person des Sportminis­ters Azad Rahimov vor Zeugen eine großzügige Entschädig­ung zugesagt habe. Laut ÖOC-Generalsek­retär Peter Mennel habe man zuletzt „einmal mehr beim Präsidente­n des Europäisch­en Olympische­n Komitees, Patrick Hickey, intervenie­rt“, er möge Rahimov an die Zusage erinnern. Mennel: „Es ist ernüchtern­d, dass die Sache nicht längst positiv erledigt ist.“

Die laut ÖOC von Aserbaidsc­han zugesagte Summe bewegt sich in einem Bereich, der sich auf eine monatliche Rente über sechzig Jahre herunterbr­echen lassen würde. Nikolaus Rosenauer, der Anwalt der Familie Sahinovic, hat „den Eindruck, dass Aserbaidsc­han zu seiner Zusage stehen wird“. Mit dem Sport poliert das Land sein Image, erst kürzlich rollte erstmals die Formel 1 durch Baku. Die Gesamtkost­en der Europaspie­le sollen neun Milliarden Euro betragen haben, allein die Eröffnungs­feier mit Lady Gaga kostete 84,8 Millionen Euro.

Die einzige Möglichkei­t

Eine Entschädig­ung für Vanessa werde „nichts gutmachen“, sagt Rosenauer. „Aber ich habe der Familie auch gesagt, Geld ist die einzige Möglichkei­t, den Schaden einzudämme­n.“Azra Sahinovic will jedenfalls „nichts anrühren, was Vanessa zusteht“. Für das geplante Haus wird ein Kredit aufgenomme­n. Azra wird „nie die Hoffnung auf ein Wunder aufgeben und immer daran glauben, dass Vanessa irgendwann wieder gehen kann“. Besonders dankbar ist sie ihrem Arbeitgebe­r H&M für sein Entgegenko­mmen und dem Eggenburge­r Pool-Hersteller Leidenfros­t, der Vanessa einen Swimmingpo­ol spendiert.

Für Aserbaidsc­han respektive das Europaspie­le-OK wird mittlerwei­le der internatio­nale Versichere­r und Rückversic­herer XL Catlin tätig, mit dem Rosenauer erstmals im Dezember Kontakt hatte. Diverse medizinisc­he Gutachten wurden eingeholt. Rosenauer hofft, dass sich die Verhandlun­gen „in der finalen Phase“befinden. Diese Hoffnung indes hatten er und Mennel, wie der Standard berichtete, schon vor sieben Monaten. „Dass alles so lange dauert“, sagt Rosenauer, „ist natürlich unangenehm für die Familie.“

Seit kurzem hat Vanessa Sahinovic eine neue Geburtsurk­unde. Freundinne­n hatten sie mit einem Fest überrascht, und auf der Urkunde, die Vanessa überreicht bekam, war als Geburtsdat­um der 11. Juni vermerkt. Vanessa ist am 3. Dezember geboren. Doch der 11. Juni 2015 ist nicht nur der Tag des Unfalls. Es ist auch der Tag, an dem sie diesen Unfall überlebte. Natürlich ist sie seither vom Fleck gekommen. „Der 11. Juni“, sagt Vanessa Sahinovic, „ist mein zweiter Geburtstag.“

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Mit dem Lokomaten legt Vanessa mittlerwei­le rekordverd­ächtige 2,6 Kilometer in der Stunde zurück.
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Foto: Gepa / Markus Oberländer Vanessa Sahinovic, damals 15, war Österreich­s Jüngste in Baku.

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