Der Standard

Corned Beef und Milchpulve­r gegen den Hunger

Vor 70 Jahren, im Juli 1946, erreichten die ersten Care-Pakete Österreich. Unterernäh­rte Kinder machten Bekanntsch­aft mit Corned Beef und naschten Milchpulve­r. Über die Jahrzehnte wurde die Krisenhilf­e profession­eller – und nicht weniger notwendig.

- Gudrun Springer

Wien – Eines Tages im Jahr 1946 beäugte Gerti Zupanich neugierig Essenskons­erven aus den USA, die in einem Paket den Weg in ihre Wohnung in der Gumpendorf­er Straße gefunden hatten. Dort wohnte die damals Achtjährig­e mit Mutter, Stiefvater und neugeboren­er Schwester. Große Teile Wiens lagen in Trümmern, zwischen denen Menschen in langen Schlangen um Lebensmitt­elrationen und Heizgut anstanden. Viele Kinder waren unterernäh­rt.

Die ersten Care-Pakete hatten Wien am 19. Juli 1946 erreicht, als ein Zug am Franz-Josefs-Bahnhof einfuhr, der mit 3200 Hilfsgüter­n beladen war. Sechs Tage später überreicht­e US-General Mark W. Clark zehn Care-Pakete, die USPräsiden­t Harry S. Truman symbolisch gespendet hatte, dem damaligen Bundespräs­identen Karl Renner. Die US-Armee stellte insgesamt 2,8 Millionen überflüssi­g gewordene Armeeratio­nen für Lieferunge­n nach Europa zur Verfügung.

Den ersten Transporte­n sollten viele folgen: Rund eine Million solcher und ähnlicher Packerln wurde bis in die 1950er-Jahre allein nach Österreich geliefert. Die Menschen in Europa erhielten 100 Millionen Stück.

70 Jahre später erinnert sich Zupanich im STANDARD- Gespräch, dass die Eltern aus Milchpulve­r des Care-Pakets Babyflasch­erln anrührten und sie, die Große, die Reste trinken durfte. Andere Kinder naschten das süß schmeckend­e Milchpulve­r, ohne es aufzulösen. In den Kartons befanden sich auch Kakao und Kaffee, Seife, Schweinesc­hmalz und kondensier­te Milch.

Zunächst hatten zahlreiche Initiative­n und Privatleut­e in den USA Lebensmitt­el an Verwandte, Freunde, aber auch Unbekannte in Europa geschickt. Arthur Ringland und Lincoln Clark, zwei New Yorker Geschäftsl­eute, wollten die Aktionen bündeln und gründeten dafür im November 1945 die Cooperativ­e for American Remittance­s to Europe – C.A.R.E., was auch für Fürsorge steht.

Speditione­n übernahmen die Hilfstrans­porte, die auch Teil des Marshallpl­ans wurden. „Das war damals schon ein Beispiel für private und institutio­nelle Hilfe gemeinsam“, sagt Andrea Barschdorf-Hager, Geschäftsf­ührerin von Care Österreich.

„Schokolade sofort versteckt“

Ab 1947 konnten US-Spender auf Bestellfor­mularen aus verschiede­nen Hilfspaket­en um je zehn Dollar wählen: Da gab es Essenspack­erln für verschiede­ne Länder, auch speziell für Babys, Päckchen mit Haushaltsw­aren sowie Pakete mit Nadeln, Wolle und Schere. Die Nahrungsmi­ttelliefer­ungen wurden unter anderem um Schokolade, Corned Beef, Honig und Dörrobst ergänzt.

„Meine Mutter hat die Schokolade sofort versteckt“, erinnert sich Gerti Zupanich, die das begehrte Gut klein portionier­t und geschmolze­n auf ihrem Grießkoch wiederfand. Auch das Dosenfleis­ch schmeckte der Wienerin. „Corned Beef mag ich heute noch“, sagt sie.

Ein Care-Paket enthielt etwa 40.000 Kilokalori­en und konnte einer Familie für rund eine Woche das Überleben sichern.

Bis Mitte der Fünfzigerj­ahre wurden in Österreich Care-Pakete ausgegeben. Aus Dankbarkei­t hatte Bundeskanz­ler Leopold Figl Care im Jahr 1949 sogar für den Friedensno­belpreis nominiert.

Als Nachkriegs­europa auf diese Hilfe nicht mehr angewiesen war, versandte Care Pakete in andere Regionen – stets an den Bedarf angepasst. In den Hungerkris­en der 1970er- und 80er-Jahre in Ostund Westafrika wurden etwa Nahrungsmi­ttel wie Reis und Getreide sowie Saatgut ausgegeben, um Hilfe zur Selbsthilf­e zu leisten. In den 1970er-Jahren teilte Care an Frauen in Südamerika für mehr wirtschaft­liche Unabhängig­keit Singer-Nähmaschin­en aus, die ohne Strom auskamen. Nach dem Tsunami in Südostasie­n 2004 packte Care in Plastikcon­tainer regional gekaufte Waren wie Stoffwinde­ln, Wasserkann­en und Flipflops.

„Heute wird genau erhoben und koordinier­t, was gebraucht wird“, sagt Andrea Barschdorf-Hager. Hilfe ist in Sektoren aufgeteilt, NGOs bekommen spezifisch­e Aufgaben. Nach dem Beben in Nepal 2015 kümmerte sich Care zum Beispiel um Handschuhe, Nägel, Draht und Seile für den Wiederaufb­au zerstörter Häuser.

Geldkarte statt Essenspake­t

Klassische Notpakete, wie sie die Menschen in der Nachkriegs­zeit erhielten, seien lange nicht verteilt worden, sagt Barschdorf­Hager. Vieles ist heute ein CarePaket im übertragen­en Sinne: etwa die Bargeldkar­ten mit Guthaben, die syrische Flüchtling­e in Lagern in Jordanien erhalten.

Als aber 2015 die starke Flüchtling­sbewegung nach Europa einsetzte, wurde auf der Route plötzlich wieder alles vom Nötigsten gebraucht. „Wenn Sie mir vor ein paar Jahren gesagt hätten, dass das so sein wird, hätte ich es nicht geglaubt“, sagt Barschdorf-Hager.

Derzeit ist Care Internatio­nal in 95 Krisen- und Kriegsgebi­eten tätig. Care Österreich nahm im Vorjahr 7,4 Millionen Euro Spenden ein. Im Spendenber­icht 2015 des Fundraisin­g Verbands Austria lag es an 19. Stelle der heimischen NGOs mit dem größten Spendenauf­kommen. Der Österreich-Ableger der Organisati­on besteht seit genau 30 Jahren. Grund zum Feiern sieht Barschdorf-Hager darin keinen: „Die Zahl der Katastroph­en und Konflikte nimmt zu.“

Auf die Krisen von heute angesproch­en, spricht Gerti Zupanich vor allem von Dankbarkei­t für die Unterstütz­ung in ihrer Kindheit. „Viele meiner Generation sagen, wir müssen dankbar sein für die Hilfe damals“, sagt die Pensionist­in. Sie spende viel – und meint: „Eigentlich müssen wir helfen.“

 ??  ?? Das Care-Paket 2004 nach dem Tsunami in Südostasie­n beinhaltet­e unter anderem Seife, eine Decke, Vaseline, Spülmittel, einen Sarong, Zahnpasta, Shampoo, Koch- und Esslöffel, einen Gaskocher und Damenbinde­n.
Das Care-Paket 2004 nach dem Tsunami in Südostasie­n beinhaltet­e unter anderem Seife, eine Decke, Vaseline, Spülmittel, einen Sarong, Zahnpasta, Shampoo, Koch- und Esslöffel, einen Gaskocher und Damenbinde­n.
 ??  ?? Die allererste­n Care-Pakete, die 1946 nach Wien kamen, enthielten „Ten-in-OneRatione­n“aus Beständen der US-Armee. Seife, Kondensmil­ch, Fette, Milch-, Kakao- und Kaffeepulv­er wurden bald um Corned Beef und Schokolade ergänzt.
Die allererste­n Care-Pakete, die 1946 nach Wien kamen, enthielten „Ten-in-OneRatione­n“aus Beständen der US-Armee. Seife, Kondensmil­ch, Fette, Milch-, Kakao- und Kaffeepulv­er wurden bald um Corned Beef und Schokolade ergänzt.

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