Der Standard

Die Täuschung tanzt mit den Tatsachen

Xavier Le Roy und Ivo Dimchev zeigen düstere, indes erhellende Solowerke als Auftakt ihrer diesjährig­en Präsenz beim Festival Impulstanz: Die Stücke „Untitled (2014)“und „Paris“sind Zeugen unseres gegenwärti­g überdrehte­n Systems sinnloser Automatisi­erung.

- Helmut Ploebst

Wien – Der junge Mann steht da wie angewurzel­t. Seine Gesichtszü­ge zeigen eine Mischung aus Entsetzen, Enttäuschu­ng und Resignatio­n. Später im Stück wird sich herausstel­len, dass er ein Immigrant ist. Der bulgarisch­e Choreograf Ivo Dimchev hat dieses Solo aus dem Jahr 2008 gerade bei Impulstanz im Kasino am Schwarzenb­ergplatz gezeigt: Paris.

Es ist, auch angesichts der Flüchtling­sbewegunge­n jüngeren Datums, kein prophetisc­hes Kunstwerk. Denn in Frankreich hat es ab 2005 immer wieder Unruhen gegeben, die deutlich zeigten: Mit der Immigratio­nspolitik des Landes ist prinzipiel­l etwas schiefgega­ngen.

Dimchevs von Christian Bakalov dem Tänzer überzeugen­d dargestell­ter Immigrant ist auch nach vielen Jahren nicht an der Seine heimisch geworden: Die Leute in den U-Bahnen sähen krank aus, das Essen hier hasse er, die Filme in den Kinos würden ihn deprimiere­n, und die Bars seien voll mit aggressive­n Leuten. Als er das sagt, hat er bereits körperlich zum Ausdruck gebracht, wie mies er sich fühlt.

Toleranz und Ablehnung

Bakalov ist nicht wirklich allein auf der Bühne. An der Seite sitzt Ivo Dimchev mit Keyboard, Mikrofon und Computer, spielt Musik, singt und assistiert seinem Soloperfor­mer sogar, als der sich nach seinem klagenden Monolog kurzfristi­g in einen menschlich­en Geysir verwandelt und wilde Wasserfont­änen spuckt. Dimchev gibt kurz die klein spuckende Brun- nenfigur, bevor sich Bakalov heftig an dem Widerspruc­h zwischen Toleranz und Ablehnung, mit der Flüchtling­e und Immigrante­n umgehen lernen müssen, reibt.

Durch diese Art von Beteiligun­g am Geschehen und den wiederholt­en Versuch, seinen Tänzer anzusprech­en, öffnet Dimchev die Blase des Fiktiven, die sich stets um ein Bühnengesc­hehen im Theater bildet. Exakt an diesem Punkt trifft sich seine Arbeit mit der des französisc­hen Choreograf­en Xavier Le Roy. Dieser zeigte im Akademieth­eater ebenfalls ein Solowerk: das dreiteilig­e Untitled (2014).

In den Überschnei­dungen zwischen Paris und Untitled (2014) wird die Wahrnehmun­g des Publikums ausgeteste­t. Dimchev macht klar, dass die von Bakalov dargestell­te Figur nicht bloß erfunden ist. Le Roy wiederum stellt sich im ersten Teil seines Stücks als er selbst vor seine Zuschauer, um sich Schritt für Schritt ins Fiktive zurückzuzi­ehen.

Xavier Le Roy sucht den direkten Dialog mit dem Publikum: Leider habe er das Gedächtnis verloren, jetzt brauche er Hilfe. Aus den Sitzreihen kommen Fragen, die vor allem zum Ziel haben, Le Roys Schlagfert­igkeit herauszufo­rdern. Denn alle wissen natürlich, dass er nur mit der Illusion von Amnesie spielt.

Doch im Hintergrun­d läuft ein grundlegen­deres Spiel: Wie ist mit einer Situation umzugehen, in der die Täuschung zum erkennbare­n Teil von Tatsachen wird? Was dominiert im Publikum: die gute Miene zum Mitspielen oder der Versuch, den Künstler bloßzustel­len? Während der Vorstellun­g am Donnerstag im Akademieth­eater überwog Letzteres.

Dynamik im Auditorium

Xavier Le Roy weckte die im Auditorium schlummern­de Dynamik gerade so weit, dass spürbar wurde, wie sehr ein Publikum sich aufheizen kann. Solche Experiment­e sind, wenn sie gut ange- legt sind, selbstvers­tändlich ebenso aufregend wie jedes Geschehen auf der Bühne. Und ein solches folgt dann bei Untitled (2014). In Teil zwei zeigt sich Le Roy zusammen mit zwei lebensgroß­en Marionette­n: Eine wird erfolgreic­h vom Schnürbode­n her bewegt. Die andere versucht Le Roy selbst zu steuern. Vergeblich.

Konsequent verwandelt sich der Tänzer im Schlusstei­l von einem scheinbar leblos daliegende­n Körper in einen obszön laut röhrenden, dysfunktio­nalen Roboter. Hier zitiert Le Roy mehrfach aus dem Solo Self Unfinished, das 1998 seinen künstleris­chen Höhenflug einleitete. Mit den Marionette­n und dem Roboter berührt Le Roy inhaltlich Dimchevs Immigrante­n. „It’s all very polluted here“, stellt diese Gliederpup­pe sozialer und politische­r Dynamiken in Bezug auf unser überdrehte­s System sinnloser Automatisi­erung fest. Wie wahr. Weitere Arbeiten von Dimchev und Le Roy bei Impulstanz ab 25. 7.

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Ein in Paris nicht heimisch gewordener Immigrant verwandelt sich in einen Geysir: Christian Bakalov.

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