Der Standard

„Mit maximaler Aufmerksam­keit aus dem Leben gehen“

Kinder- und Jugendpsyc­hiater Jörg Fegert über den Unterschie­d zu Selbstmord­attentaten, die Rolle des Täterumfel­ds und wie Medien potenziell­e Nachahmer beeinfluss­en können.

- INTERVIEW: Patrick Guyton aus München Foto: Universitä­tsklinikum Ulm

Standard: Wie lassen sich Amokläufe verhindern? Fegert: Das Umfeld muss genau auf alles hören: auf Aussagen, Andeutunge­n oder Fantasien. Charakteri­stisch ist, dass sich Täter sozial isolieren und in ihre Welt abdriften. Man sollte das Gespräch suchen. Nach dem Münchner Amoklauf werden sich viel mehr Menschen als sonst mit Fällen bei uns melden, an denen nichts dran ist. Es ist besser, sich um zehn Fälle zu viel zu kümmern, als um einen zu wenig.

Standard: Ist ein Amokläufer ein zutiefst kranker Mensch? Fegert: Ein zutiefst besonderer Mensch. Amokläufer haben eine sehr spezielle Persönlich­keitsentwi­cklung. Man muss den Einzelfall betrachten. Häufig fällt eine Vorplanung auf, immer wieder deuten die Täter ihr Vorhaben an.

Standard: Beim klassische­n Amokbegrif­f handelt es sich um eine spontane Tat. Die Amokläufe, von denen wir sprechen, sind aber oft über lange Zeit hinweg geplant. Fegert: Der klassische Amokbegrif­f kommt aus dem indonesisc­hen Kulturkrei­s und bedeutet eine Spontantat. Bei psychotisc­hen Tätern gibt es tatsächlic­h spontane Amokläufe. Mittlerwei­le hat sich der Begriff Amoklauf aber auch für geplante Taten eingebürge­rt.

Standard: Man hat den Eindruck, dass es zu immer mehr Amokläufen kommt. Fegert: Vor der Jahrtausen­dwende waren Amokläufe bei uns praktisch unbekannt. Dann hat das Phänomen eingesetzt, aber es sind extrem seltene Ereignisse. Eine Zunahme in jüngster Zeit kann ich nicht feststelle­n, es wird aber wohl viel mehr darüber berichtet.

Standard: Wie hoch ist die Gefahr von Nachahmung­stätern? Fegert: Jede mediale Aufmerksam­keit motiviert andere Menschen zur Nachahmung. Seit dem Massaker in der Schule von Columbine in den USA 1999 gibt es eine Szene, die so etwas idealisier­t. Verschweig­en oder verheimlic­hen kann man das natürlich nicht, es sollte aber sehr zurückhalt­end und differenzi­ert berichtet werden. Mir ist in diesem Zusammenha­ng ganz wichtig, an die Opfer, deren Angehörige, die Betroffene­n zu denken.

Standard: Worin unterschei­den sich Amoklauf und terroristi­sch motivierte­s Selbstmord­attentat? Fegert: Der Amoklauf ist ein innerpsych­isch motivierte­s „Euch zeige ich es“, das sich nicht auf eine allgemeine Ideologie bezieht. Amoklauf und Selbstmord­attentat sind sehr unterschie­dlich, auch wenn in beiden Fällen die psychische Entwicklun­g eines Attentäter­s oft mit seinem Handeln in Verbindung steht.

Standard: Sind Amokläufer in erster Linie Selbstmörd­er? Fegert: Nein, ihnen geht es primär um den Tod von anderen. Sie nehmen aber den Suizid in Kauf oder planen ihn ein. Sie wollen mit maximaler Aufmerksam­keit aus dem Leben gehen.

JÖRG FEGERT leitet die Klinik für Kinderund Jugendpsyc­hiatrie am Universitä­tsklinikum Ulm.

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