„Mit maximaler Aufmerksamkeit aus dem Leben gehen“
Kinder- und Jugendpsychiater Jörg Fegert über den Unterschied zu Selbstmordattentaten, die Rolle des Täterumfelds und wie Medien potenzielle Nachahmer beeinflussen können.
Standard: Wie lassen sich Amokläufe verhindern? Fegert: Das Umfeld muss genau auf alles hören: auf Aussagen, Andeutungen oder Fantasien. Charakteristisch ist, dass sich Täter sozial isolieren und in ihre Welt abdriften. Man sollte das Gespräch suchen. Nach dem Münchner Amoklauf werden sich viel mehr Menschen als sonst mit Fällen bei uns melden, an denen nichts dran ist. Es ist besser, sich um zehn Fälle zu viel zu kümmern, als um einen zu wenig.
Standard: Ist ein Amokläufer ein zutiefst kranker Mensch? Fegert: Ein zutiefst besonderer Mensch. Amokläufer haben eine sehr spezielle Persönlichkeitsentwicklung. Man muss den Einzelfall betrachten. Häufig fällt eine Vorplanung auf, immer wieder deuten die Täter ihr Vorhaben an.
Standard: Beim klassischen Amokbegriff handelt es sich um eine spontane Tat. Die Amokläufe, von denen wir sprechen, sind aber oft über lange Zeit hinweg geplant. Fegert: Der klassische Amokbegriff kommt aus dem indonesischen Kulturkreis und bedeutet eine Spontantat. Bei psychotischen Tätern gibt es tatsächlich spontane Amokläufe. Mittlerweile hat sich der Begriff Amoklauf aber auch für geplante Taten eingebürgert.
Standard: Man hat den Eindruck, dass es zu immer mehr Amokläufen kommt. Fegert: Vor der Jahrtausendwende waren Amokläufe bei uns praktisch unbekannt. Dann hat das Phänomen eingesetzt, aber es sind extrem seltene Ereignisse. Eine Zunahme in jüngster Zeit kann ich nicht feststellen, es wird aber wohl viel mehr darüber berichtet.
Standard: Wie hoch ist die Gefahr von Nachahmungstätern? Fegert: Jede mediale Aufmerksamkeit motiviert andere Menschen zur Nachahmung. Seit dem Massaker in der Schule von Columbine in den USA 1999 gibt es eine Szene, die so etwas idealisiert. Verschweigen oder verheimlichen kann man das natürlich nicht, es sollte aber sehr zurückhaltend und differenziert berichtet werden. Mir ist in diesem Zusammenhang ganz wichtig, an die Opfer, deren Angehörige, die Betroffenen zu denken.
Standard: Worin unterscheiden sich Amoklauf und terroristisch motiviertes Selbstmordattentat? Fegert: Der Amoklauf ist ein innerpsychisch motiviertes „Euch zeige ich es“, das sich nicht auf eine allgemeine Ideologie bezieht. Amoklauf und Selbstmordattentat sind sehr unterschiedlich, auch wenn in beiden Fällen die psychische Entwicklung eines Attentäters oft mit seinem Handeln in Verbindung steht.
Standard: Sind Amokläufer in erster Linie Selbstmörder? Fegert: Nein, ihnen geht es primär um den Tod von anderen. Sie nehmen aber den Suizid in Kauf oder planen ihn ein. Sie wollen mit maximaler Aufmerksamkeit aus dem Leben gehen.
JÖRG FEGERT leitet die Klinik für Kinderund Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Ulm.