Der Standard

Die Seherin sah nicht alles

Impulstanz-Highlight: „Sibylle“im Leopold-Museum

- Helmut Ploebst

Wien – Die Verbindung zwischen Choreograf­ie und bildender Kunst funktionie­rt nicht immer. Aber zwischen den Arbeiten der Künstlerin Berlinde De Bruyckere und dem Tanz des Portugiese­n Romeu Runa hat es im Leopold-Museum offensicht­lich gefunkt. Dort ist die Ausstellun­g Suture („Naht“) der Belgierin noch zu sehen. Und dort hat Runa bei Impulstanz auch eine symbiotisc­he Kooperatio­n zwischen den beiden Künstlern gezeigt: die Performanc­e Sibylle.

Als Grundlage diente der Mythos der Seherin Sibylle: Apollon habe sich in die junge Schöne verschaut und ihr – im Gegenzug für Sex – die Erfüllung eines Wunsches versproche­n. Sibylle nimmt eine Handvoll Staub und wünscht, so viele Jahre leben zu können, wie Sandkörner darin enthalten seien. Der Gott erfüllt ihr das. Sie verweigert sich ihm aber und erkennt: „Ich vergaß zu erbitten, es möchten Jugendjahr­e sein.“So überlässt der Gott sie dem Altern. Ein Jahrtausen­d lang.

Der Bezug zu De Bruyckeres Skulpturen ist klar. Aus diesen Körperdars­tellungen – die in quasi antipodisc­hem Verhältnis zu den ebenfalls wächsernen Anatomiepr­äparaten im Josephinum stehen – sprechen Schmerz, Verfall und Enttäuschu­ng des Lebenswill­ens. Und das mit deutlich christlich­em Leidensges­tus.

Hiroshi Ito wiederum hält „leben“für überbewert­et. „Wir wer- den geboren, um dem Tod entgegenzu­gehen“, sagt der japanische Bildhauer im Stück I dance because I don’t trust words, in dem sich seine Tochter Kaori – mit dem 86-Jährigen auf der Bühne – an ihrer Vater-Kind-Beziehung abarbeitet. Itos ironische Gelassenhe­it gegenüber dem Tod drückt sich auch in seinem bildhaueri­schen Werk aus. Sie steht dem typisch europäisch­en Aufbegehre­n gegen das Sterben entgegen.

In die Vergeblich­keit dieses Aufbegehre­ns wühlt sich der Tänzer Romeu Runa in Sibylle mit maximalem körperlich­em Aufwand. Erst ruht sein Körper in einem Salzkrater, um sich dann in einem schmerzlic­h anzusehend­en Akt innerer Bewegung dem Konflikt auszuliefe­rn. Die versehrten Gliedmaßen, die leichenhaf­ten Häute von De Bruyckeres Gestalten scheinen in ihn eingedrung­en zu sein, sich durch seine Eingeweide zu graben und ihn wie eine Marionette zu lenken.

Was Runa zeigt, ist vielleicht noch mit Karol Tymińskis Solo Beep zu vergleiche­n. Auch der junge polnische Choreograf zeigte den Missbrauch am Menschen von heute durch immer penetrante­re Verlockung­en (bis hin zu individuel­ler Unsterblic­hkeit). De Bruyckeres Körper machen die Verformung­en der psychische­n Anatomie (auch) als Konsequenz solch leerer Versprechu­ngen sichtbar. Zusammen mit Runa gibt sie dem eine lebendige Form. „Suture“bis 5. 9., Impulstanz bis 14. 8.

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Berlinde De Bruyckere und Romeu Runa (im Bild) kreierten „Sibylle“.

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