Die Ära unregulierter Migration ist vorbei
Die Politik muss die Zahl der Wirtschaftsmigranten nach Europa begrenzen und vor allem auch die wirtschaftlichen Unsicherheiten der Europäer verringern, wenn der soziale Friede gewahrt werden soll. Das allerdings ist erst der Anfang.
Die grauenvolle Gewalttat des Französisch-Tunesiers, der am Nationalfeiertag in eine Menschenmenge fuhr, 84 Menschen tötete und Hunderte mehr verletzte, wird Marine Le Pen und dem Front National bei der Präsidentenwahl im nächsten Frühjahr einen enormen Zulauf bescheren. Es ist dabei egal, ob der Mörder Mohamed Lahouaiej Bouhlel Verbindungen zum radikalen Islam hatte oder nicht. In der gesamten westlichen Welt hat eine giftige Mischung aus physischer, ökonomischer und kultureller Unsicherheit migrationsfeindliche Gefühle und Politik genau in dem Moment wachsen lassen, in dem die Auflösung postkolonialer Staaten im arabischen Raum ein Flüchtlingsproblem hervorruft, das es in diesem Ausmaß seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hat.
In den vergangenen Jahren war ein wichtiges Merkmal der liberaldemokratischen Gesellschaften ihre Offenheit Neuankömmlingen gegenüber. Nur Frömmler konnten nicht erkennen, dass die Immigration sowohl den aufnehmenden Gesellschaften als auch den Migranten selbst nützt, also war es die Aufgabe der Politik, diese Ansichten aus dem öffentlichen Diskurs fernzuhalten und Integration oder Assimilation zu fördern. Leider haben die westlichen Eliten die Bedingungen für den Erfolg missachtet.
Obwohl die Bewegung von Menschen ein konstantes Merkmal der Menschheitsgeschichte ist, war sie immer nur dann relativ unblutig, wenn sie in kaum besiedelte oder entwickelte Gebiete erfolgte. Ein klassisches Beispiel ist die Emigration aus Europa in die Neue Welt im 19. Jahrhundert. Zwischen 1840 und 1914 verließen 55 Millionen Menschen Europa und begaben sich auf den Weg nach Amerika – viel mehr, im Verhältnis zur Bevölkerung, als die Migration seit dem Zweiten Weltkrieg. Fast alle waren damals Wirtschaftsmigranten, die von Hungersnöten und Armut auf dem Land vertrieben und durch das Versprechen eines freien Landes und eines besseren Lebens in die Neue Welt gelockt worden waren.
Fluchtumkehr
Als sich die Welt industrialisierte und mit Menschen füllte, kehrten sich die Ströme der Menschen von der entwickelten Welt in die Entwicklungsländer um. Armut und Hunger in den armen Ländern vertrieben die Menschen noch immer aus ihrem Land, aber der Anreiz, der sogenannte Pull-Faktor, war nicht ein freies Land, sondern es waren bessere Arbeitsplätze in den entwickelten Ländern.
Dadurch entstanden die heutigen Spannungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg verfolgten die westlichen Staaten eine Politik, die darauf abzielte, die wirtschaftlichen Nutzen der Immigration (billige Arbeitskräfte), den Schutz der Arbeitsplätze in den Ländern und den Lebensstil auszugleichen. Westdeutschland zum Beispiel nahm zwischen 1955 und 1973 14 Millionen sogenannte Gastarbeiter auf. Man erwartete zwar von den Gästen, dass sie nach zwei Jahren nach Hause zurückkehren würden, aber die diesbezüglichen Kontrollen wurden im Zuge der allgemeinen Einführung freier Bewegungen von Handel und Kapital allmählich gelockert.
Neben den wirtschaftlichen Gründen für Migration hat es immer auch andere gegeben: ethnische, religiöse und politische Verfolgung. Beispiele dafür sind die Vertreibung der Juden aus Spanien 1492, der Hugenotten aus Frankreich 1685, der Deutschen und anderer aus den osteuropäischen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg, einiger Palästinenser aus Israel 1948 und der Inder aus Uganda in den 1970er-Jahren.
In den letzten Jahren sind Flüchtlinge hauptsächlich entweder vor Verfolgung oder extremer Unsicherheit nach der Auflösung ihrer Staaten geflohen. Wie auf dem Balkan in den 1990ern und in Afghanistan und dem Horn von Afrika in den 2000ern. Die fünf Millionen Syrer, die sich jetzt in der Türkei, im Libanon und in Jordanien aufhalten, sind das letzte und dramatischste Beispiel für dieses Muster. Für diese Immigration sind die Vertreibungsgründe, die sogenannten Push-Faktoren, die wichtigsten. Aber die Linie zwischen Flüchtlingen und Migranten, die ihre Heimat aus wirtschaftlichen Gründen verlassen, verschwimmt mit der Zeit. Die Geschichte lehrt uns, dass die meisten Flüchtlinge nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren. Es dauert lange, bis das Gefühl der extremen Unsicherheit abnimmt, und mit der Zeit nimmt die Aussicht auf ein besseres Leben überhand.
Das erklärt eine wichtige Tatsache der allgemeinen Wahrnehmung: Die meisten Menschen in den Aufnahmeländern unterscheiden nicht zwischen Flüchtlingen und Migranten. Beide werden als Konkurrenz für bestehenden Ressourcen gesehen, nicht als Quelle neuer Ressourcen. Die Flucht von Ostafrikanern aus Kenia im Zuge der „Afrikanisierungskampagne“des Landes hat direkt zu der Antiimmigrationsgesetzgebung im Vereinigten Königreich 1968 geführt.
Diese Perspektive legt drei Schlussfolgerungen nahe: Zuerst – immigrationsfeindliche Gefühle basieren nicht auf Vorurteilen, Unkenntnis oder politischem Opportunismus. Immigrationsfeindliche Sprache ist nicht nur ein soziales Konstrukt. Worte sind nicht Spiegel der Dinge „da draußen“, sondern sie haben einen Bezug zu diesen Dingen. Man kann nicht etwas manipulieren, wenn nichts da ist, das man manipulieren könnte. Wir können Wörter erst ändern, wenn wir Realitäten verändern, auf die sich Wörter beziehen.
Zweitens: Das Zeitalter der unregulierten Massenbewegungen nähert sich seinem Ende. Wie der Brexit zeigt, hat die politische Klasse Europas die Spannungen unterschätzt, die durch die freie transnationale Bewegung entstehen – eine Parole des gescheiterten neoliberalen Projekts der Maximierung der marktbasierten Ressourcenallokation. Kritiker des Neoliberalismus können Bevölkerungsbewegungen nicht ständig von der Regulierung ausnehmen. Der fatale Mangel der freien Mobilität in der EU ist, dass er immer einen Staat braucht, der die Bewegung managt. Dieser Staat existiert nicht. Die Aushändigung eines EU-Passes an die Menschen legitimiert nicht einen einheitlichen Arbeitsmarkt, darum sind „Notbremsen“für die Migration innerhalb der EU unvermeidlich.
Drittens müssen wir der Tatsache ins Auge blicken, dass die meisten Flüchtlinge, die in der EU ankommen, nicht nach Hause zurückkehren werden.
Der Weg nach vorne ist schwierig. Die einfachsten Schritte wären die, die die Sicherheit der Wähler im weitesten Sinne stärken, weil diese Politik in der Kontrolle der politischen Führung liegt. Dazu gehört nicht nur eine Grenze für die Anzahl der Wirtschaftsmigranten, sondern auch Maßnahmen, die zu einer Erwartung von Vollbeschäftigung und Einkommenssicherheit führen. Nur wenn die Unsicherheiten der Wähler reduziert werden, gibt es Hoffnung auf eine aktive Politik zur Assimilierung oder Integration von Flüchtlingen, deren Anzahl westliche Staats- und Regierungschefs nicht direkt kontrollieren können.
Faktoren verringern
Das ungelöste Problem ist, wie man die Faktoren verringern kann, die die Menschen aus ihren Ländern vertreiben. Wir können hoffen, dass die wirtschaftliche Entwicklung in Europa die Bedingungen ausreichend angleicht, um die Nettoströme von einer Region zur anderen zu beenden. Aber dem Flüchtlingsstrom aus Nahost und Afrika ein Ende zu setzen, ist eine gewaltige Herausforderung. Die Wiederherstellung der Ordnung und die Schaffung einer legitimen Autorität sind Voraussetzungen wirtschaftlicher Entwicklung, und wir wissen nicht, wie das gelingen kann. In einigen Fällen müssen vielleicht Grenzen neu gezogen werden. Aber es ist kaum anzunehmen, dass das ohne jahrelange Kämpfe geschehen kann. Und wir wissen nicht, was der Westen dazu beitragen kann, das Blutvergießen zu verringern.
Das jedoch scheint klar: Ohne erhöhte Sicherheit auf beiden Seiten wird die politische Gewalt von der islamischen Welt auf die Nachbarn in Europa übergreifen. Aus dem Englischen: E. Göllner
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ROBERT SKIDELSKY ist Mitglied des britischen House of Lords und Professor emeritus für Politische Ökonomie an der Universität Warwick.