Kommissar Hahn: EU-Zahlungen an Türkei nicht stoppen
Warnung vor Schnellschuss – Bruch mit Ankara würde Flüchtlinge und NGOs treffen
Brüssel/Ankara – EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn spricht sich im STANDARD- Interview dafür aus, bestehende Verträge trotz der aktuell brisanten Lage in der Türkei einzuhalten. Ein Stopp der Zahlungen für den EU-TürkeiPakt oder der Heranführungshilfen sei nicht ratsam: „Wir haben als EU unsere Verfahren im Beitrittsprozess“, diese seien einzuhalten. Im Herbst, wenn der übliche Fortschrittsbericht vorliege, solle über Konsequenzen entschieden werden. Europäische Schnellschüsse gegen den autoritär agierenden türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan würden Hahn zufolge Flüchtlinge und türkische NGOs hart treffen.
Ein Beitritt der Türkei sei momentan kein Thema, bekräftigte EU-Kommissionspräsident JeanClaude Juncker am Montag.
Erdogan empfing derweil die Chefs der Oppositionsparteien CHP und MHP zu Gesprächen. Am Montag wurden im Zuge der politischen Säuberungen nach dem Putschversuch 42 Journalisten verhaftet. (red)
Standard: Im Oktober 2015 haben Sie mit Präsident Tayyip Erdogan den EU-Türkei-Pakt zur Migrationskrise verhandelt. Hätten Sie sich damals vorstellen können, dass das Land neun Monate später nach einem Putschversuch im Ausnahmezustand ist, die Beziehungen zur EU vor einer Zerreißprobe? Hahn: Nein, schlicht und einfach. Damals herrschte eine gewisse Aufbruchsstimmung in Bezug auf die Intensivierung der Zusammenarbeit mit der Türkei.
Standard: Wollte die Türkei selbst auch diese Annäherung, oder wollte vor allem die EU den Pakt wegen der Flüchtlingskrise? Hahn: Ich meine durchaus auch Erdogan. Die Türken brachten klar zum Ausdruck, dass in der Zusammenarbeit mit Europa ihre Zukunft liegt, auch vor dem geopolitischen Hintergrund der Einbettung des Syrienkonflikts, der neuen Entwicklung mit dem Iran, der wirtschaftlichen Entwicklung. Nach wie vor gilt heute ja, dass wir für die Türkei der wichtigste Wirtschaftspartner sind.
Standard: Aber es gab schon Konflikte wegen des schlechten Umgangs der Regierung mit Grundrechten, mit Medien. Hat man die Härte Erdogans unterschätzt? Hahn: Erdogan ist ein sehr emotionaler Mensch. Aber für mich zählen die Fakten. Damals war die Einschätzung, dass es zwar Rückschritte im Menschenrechtsbereich gibt, wir aber durch Verhandlungen die Dinge beeinflussen und wieder ins Lot bringen können. Das war auch die Einschätzung von vielen Menschenrechtsorganisationen und NGOs in der Türkei.
Standard: Wo war der Bruch, haben die Europäer etwas übersehen? Hahn: Ich denke, Erdogan hat seine eigene Agenda. Ob die mit der Europäischen Union kompatibel ist, müssen wir zu einem bestimmten Zeitpunkt beantworten, aber nicht jetzt. Die Türkei ist nicht Erdogan alleine. Das sind 80 Millionen Menschen, viele von ihnen setzen Hoffnungen in die EU. Heute geht es vor allem darum, dass wir weiterhin mit der Türkei reden. Nur auf diese Weise können wir etwas für die Menschen bewirken, die noch an einen proeuropäischen Weg glauben.
Standard: Es mehren sich die Stimmen, dass man die Beitrittsverhandlungen abbrechen muss. Sie sagten, die Einführung der Todesstrafe würde dazu führen. Hahn: Die Todesstrafe ist etwas Symbolhaftes, daher mein Satz, das sei für Beitrittsverhandlungen ein K.-o.-Kriterium. Aber man kann selbstverständlich auch den schleichenden Abbau der Rechtsstaatlichkeit nicht ignorieren.
Standard: Wann muss die EU zu Erdogan „Schluss!“sagen? Hahn: Meine Position ist, dass man nicht emotional reagieren darf. Ich muss geltende Beschlüsse einhalten, die Dinge auf dem Weg halten. Wir haben als EU unsere Verfahren im Beitrittsprozess, die für jedes Kandidatenland gelten und einzuhalten sind. Es wird im Herbst einen Bericht geben, da wird man sich anschauen müssen, inwieweit die Kopenhagen-Kriterien noch eingehalten werden.
Standard: Also die Mindestkriterien, die ein EU-Kandidat erfüllen muss, wie Rechtsstaatlichkeit ... Hahn: Im Moment gibt es in der Türkei eine Fülle von Ankündigungen. Jetzt müssen wir schauen, wie sich die Dinge materialisieren. Ich habe es für gut gefunden, dass die OSZE angekündigt hat, sie wolle die Prozesse gegen Verdächtige, gegen die Inhaftierten in Zusammenhang mit dem Putschversuch, beobachten. Wenn die Türkei zustimmt, wäre das ein gutes Signal.
Standard: Sie meinen, es wäre falsch, Verhandlungen abzubrechen oder die Hilfszahlungen einzufrieren? Hahn: Wir müssen die Dinge unterscheiden. Es ist schon klar: Das Bild ist äußerst kritisch. Ich habe in einem gemeinsamen Statement mit der Außenbeauftragten Federica Mogherini klar zum Ausdruck gebracht, dass Massenverhaftungen und -suspendierungen auf Verdacht in weiten Teilen der Zivilgesellschaft inakzeptabel sind und die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit sowie die Grundwerte einzuhalten sind. Trotzdem muss man sagen, wenn wir so großen Wert auf Rechtsstaatlichkeit legen, dann gilt dieser Maßstab auch für uns selbst – ob mir das jetzt emotional passt oder nicht.
Standard: Die EU muss ihre Verträge mit der Türkei einhalten? Hahn: Ja, und auch zu ihren eigenen Prinzipien stehen. Das heißt, wir müssen Verfahren beachten und Ergebnisse genau herausarbeiten. Wenn wir jetzt Schnellschüsse machen würden, wäre das genau das, was wir an Erdogan kritisieren. Wir sollten Schnellschüsse vermeiden.
Standard: Was steht auf dem Spiel für die EU, wenn die Beziehungen zur Türkei scheitern? Hahn: Man muss sich vor Augen halten, dass dieser berühmte Ak- tionsplan vom Herbst verschiedene Bereiche umfasst. Die Migrationssache ist nur ein Thema. Der Schwerpunkt heute liegt darauf, dass wir bereit sind, unsere Beiträge zu leisten zu den enormen finanziellen Aufwendungen für Flüchtlinge, die die Türkei hat, zur Stabilisierung im Osten an der Grenze zu Syrien.
Standard: Also die drei Milliarden Euro in zwei Jahren für syrische Flüchtlinge, 2016 und 2017? Hahn: Wir werden bis zum Ende des Sommers cirka 1,2 Milliarden für Flüchtlinge eingesetzt haben. Bis Jahresende gelten als Ziel etwa zwei Milliarden Euro. Das Geld geht über NGOs direkt an die Flüchtlinge, und wir kontrollieren die Verwendung auf das Genaueste. Es wird für Schulbesuche, Sprachkurse, medizinische und Nahrungsversorgung eingesetzt.
Standard: Gilt das auch für die EUVorbeitrittshilfen – die machen bis 2020 rund 4,5 Milliarden Euro aus? Kann man das einfrieren? Hahn: Es sind 600 bis 700 Millionen pro Jahr. Es gibt dazu rechtliche Vereinbarungen. Es ist das ja nicht Geld, das von uns einfach so auf Nummernkonten überwiesen wird. Es geht dabei um ganz konkrete Projekte, etwa den Ausbau des Schienennetzes, um die Verbindungen nach Europa zu verbessern. Es ist nicht so einfach, die zu stoppen.
Standard: Besteht die Gefahr, dass bei einem Bruch wieder hunderttausende Flüchtlinge über die Ägäis kommen? Hahn: Nicht logischerweise, es sei denn, das wird von türkischer Seite bewusst organisiert. Ich habe mehrere Male Ostanatolien besucht, und es zeigt sich dort, dass viele Syrer entweder dort bleiben wollen, oder am liebsten in ihre Heimat zurückkehren würden, sobald es die Lage erlaubt. Die Türkei hat Anfang des Jahres sehr vorbildhaft die Möglichkeit geschaffen, dass syrische Flüchtlinge arbeiten dürfen. Von den Syrern gibt es keinen Druck, nach Europa zu kommen.
Standard: Zu ergänzen wäre, dass die Balkanroute geschlossen ist ... Hahn: Ja, es hat sich auch bei Leuten, die aus Afghanistan oder aus Pakistan kommen, herumgesprochen, dass es nach der Durchreise durch die Türkei nicht weitergeht Richtung Europa. Standard: Ist damit auch die österreichische Position bestätigt, die Balkanroute gemeinsam mit den Nachbarstaaten zu schließen? Die Kommission hat das hart kritisiert.
Hahn: Da war eher die Frage des Timings und die mangelnde Abstimmung innerhalb der EU Gegenstand der Kritik. Es kann ja niemand leugnen, dass es funktioniert. Die unmittelbar betroffenen Balkanländer – Serbien und die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien – haben sich vorbildhaft kooperativ verhalten. Und auch die anderen Balkanstaaten haben Vorkehrungen getroffen. Ich möchte dazu sagen, dass ich nicht möchte, dass die Balkanländer, auf die ich einen besonderen Blick habe, zu einem Parkplatz werden, auf dem die Flüchtlinge sich weder nach vorne noch nach hinten bewegen können.
Die Türkei ist nicht Erdogan alleine. Das sind 80 Millionen Menschen, viele von ihnen setzen ihre Hoffnungen in die EU, auf Europa.
Standard: Kann es sein, dass sich die vor 25 Jahren eingeschlagene Strategie der Union als Illusion erweist, wonach die Erweiterung ständig fortgesetzt wird und immer mehr Staaten Mitglied einer einheitlichen EU werden können?
Hahn: Das Erweiterungsthema ist jetzt gerade sicher nicht das zentrale Problem bei der Frage, wie wir in nächster Zukunft mit Europa umzugehen haben. Es gibt in dieser Kommissionsperiode keine Erweiterung. Die wichtigere Frage ist: Wie finden wir zur Normalität zurück? Die Sorge der Beitrittsländer war nach der Brexit-Abstimmung, dass wir sie jetzt nicht mehr wollen. Aber der Westbalkan ist strategisch für die Union sehr wichtig, am Ende des Tages müssen diese Länder Mitglied werden.
Standard: Zum Brexit: Wie wird man die Trennung von Großbritannien vollziehen?
Hahn: Wir haben ein gute Chance, dass wir am Ende freundschaftlich miteinander weiterarbeiten, wenn die Verhandlungen auf beiden Seiten sachlich und fair geführt werden. Das kann durchaus hart ablaufen. Vielleicht werden wir sogar eine bessere Zusammenarbeit haben als bisher. Die Briten sind für uns in vielerlei Hinsicht ein Wert, sie haben wahrscheinlich das beste internationale Netzwerk von allen Staaten, wenn man das global sieht.
Standard: Könnte das herauskommen, was David Cameron aushandelte? Die Briten bleiben Partner im Binnenmarkt, nehmen aber an der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik nicht teil, auch nicht bei Schengen und Justiz? Hahn: Des hängt ganz von den Verhandlungen ab. Ein Teil der Brexit-Kampagne war, dass die Personenfreizügigkeit eingeschränkt werden soll. Wenn das nach wie vor Thema ist, dann wird der Binnenmarkt mit Großbritannien nicht möglich sein. Wir können nicht den Briten bei der Freizügigkeit etwas zugestehen, was für die EU-27 nicht gilt, dann wären wir unsere eigenen Totengräber.
Standard: Soll man versuchen, die Briten im Binnenmarkt zu halten? Hahn: Natürlich wäre das sinnvoll. Aber das liegt an den Briten. Man kann nicht die Personenfreizügigkeit einschränken wollen, aber gleichzeitig die wirtschaftliche Freizügigkeit für sich in Anspruch nehmen.