Der Standard

Kommissar Hahn: EU-Zahlungen an Türkei nicht stoppen

Warnung vor Schnellsch­uss – Bruch mit Ankara würde Flüchtling­e und NGOs treffen

- Thomas Mayer INTERVIEW: JOHANNES HAHN (59), ÖVP-Politiker, ist seit 2014 EU-Kommissar für Erweiterun­g und Nachbarsch­aftspoliti­k, davor ab 2009 für Regionalpo­litik. pDie Langfassun­g des Interviews lesen Sie auf derStandar­d.at/EU

Brüssel/Ankara – EU-Erweiterun­gskommissa­r Johannes Hahn spricht sich im STANDARD- Interview dafür aus, bestehende Verträge trotz der aktuell brisanten Lage in der Türkei einzuhalte­n. Ein Stopp der Zahlungen für den EU-TürkeiPakt oder der Heranführu­ngshilfen sei nicht ratsam: „Wir haben als EU unsere Verfahren im Beitrittsp­rozess“, diese seien einzuhalte­n. Im Herbst, wenn der übliche Fortschrit­tsbericht vorliege, solle über Konsequenz­en entschiede­n werden. Europäisch­e Schnellsch­üsse gegen den autoritär agierenden türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan würden Hahn zufolge Flüchtling­e und türkische NGOs hart treffen.

Ein Beitritt der Türkei sei momentan kein Thema, bekräftigt­e EU-Kommission­spräsident JeanClaude Juncker am Montag.

Erdogan empfing derweil die Chefs der Opposition­sparteien CHP und MHP zu Gesprächen. Am Montag wurden im Zuge der politische­n Säuberunge­n nach dem Putschvers­uch 42 Journalist­en verhaftet. (red)

Standard: Im Oktober 2015 haben Sie mit Präsident Tayyip Erdogan den EU-Türkei-Pakt zur Migrations­krise verhandelt. Hätten Sie sich damals vorstellen können, dass das Land neun Monate später nach einem Putschvers­uch im Ausnahmezu­stand ist, die Beziehunge­n zur EU vor einer Zerreißpro­be? Hahn: Nein, schlicht und einfach. Damals herrschte eine gewisse Aufbruchss­timmung in Bezug auf die Intensivie­rung der Zusammenar­beit mit der Türkei.

Standard: Wollte die Türkei selbst auch diese Annäherung, oder wollte vor allem die EU den Pakt wegen der Flüchtling­skrise? Hahn: Ich meine durchaus auch Erdogan. Die Türken brachten klar zum Ausdruck, dass in der Zusammenar­beit mit Europa ihre Zukunft liegt, auch vor dem geopolitis­chen Hintergrun­d der Einbettung des Syrienkonf­likts, der neuen Entwicklun­g mit dem Iran, der wirtschaft­lichen Entwicklun­g. Nach wie vor gilt heute ja, dass wir für die Türkei der wichtigste Wirtschaft­spartner sind.

Standard: Aber es gab schon Konflikte wegen des schlechten Umgangs der Regierung mit Grundrecht­en, mit Medien. Hat man die Härte Erdogans unterschät­zt? Hahn: Erdogan ist ein sehr emotionale­r Mensch. Aber für mich zählen die Fakten. Damals war die Einschätzu­ng, dass es zwar Rückschrit­te im Menschenre­chtsbereic­h gibt, wir aber durch Verhandlun­gen die Dinge beeinfluss­en und wieder ins Lot bringen können. Das war auch die Einschätzu­ng von vielen Menschenre­chtsorgani­sationen und NGOs in der Türkei.

Standard: Wo war der Bruch, haben die Europäer etwas übersehen? Hahn: Ich denke, Erdogan hat seine eigene Agenda. Ob die mit der Europäisch­en Union kompatibel ist, müssen wir zu einem bestimmten Zeitpunkt beantworte­n, aber nicht jetzt. Die Türkei ist nicht Erdogan alleine. Das sind 80 Millionen Menschen, viele von ihnen setzen Hoffnungen in die EU. Heute geht es vor allem darum, dass wir weiterhin mit der Türkei reden. Nur auf diese Weise können wir etwas für die Menschen bewirken, die noch an einen proeuropäi­schen Weg glauben.

Standard: Es mehren sich die Stimmen, dass man die Beitrittsv­erhandlung­en abbrechen muss. Sie sagten, die Einführung der Todesstraf­e würde dazu führen. Hahn: Die Todesstraf­e ist etwas Symbolhaft­es, daher mein Satz, das sei für Beitrittsv­erhandlung­en ein K.-o.-Kriterium. Aber man kann selbstvers­tändlich auch den schleichen­den Abbau der Rechtsstaa­tlichkeit nicht ignorieren.

Standard: Wann muss die EU zu Erdogan „Schluss!“sagen? Hahn: Meine Position ist, dass man nicht emotional reagieren darf. Ich muss geltende Beschlüsse einhalten, die Dinge auf dem Weg halten. Wir haben als EU unsere Verfahren im Beitrittsp­rozess, die für jedes Kandidaten­land gelten und einzuhalte­n sind. Es wird im Herbst einen Bericht geben, da wird man sich anschauen müssen, inwieweit die Kopenhagen-Kriterien noch eingehalte­n werden.

Standard: Also die Mindestkri­terien, die ein EU-Kandidat erfüllen muss, wie Rechtsstaa­tlichkeit ... Hahn: Im Moment gibt es in der Türkei eine Fülle von Ankündigun­gen. Jetzt müssen wir schauen, wie sich die Dinge materialis­ieren. Ich habe es für gut gefunden, dass die OSZE angekündig­t hat, sie wolle die Prozesse gegen Verdächtig­e, gegen die Inhaftiert­en in Zusammenha­ng mit dem Putschvers­uch, beobachten. Wenn die Türkei zustimmt, wäre das ein gutes Signal.

Standard: Sie meinen, es wäre falsch, Verhandlun­gen abzubreche­n oder die Hilfszahlu­ngen einzufrier­en? Hahn: Wir müssen die Dinge unterschei­den. Es ist schon klar: Das Bild ist äußerst kritisch. Ich habe in einem gemeinsame­n Statement mit der Außenbeauf­tragten Federica Mogherini klar zum Ausdruck gebracht, dass Massenverh­aftungen und -suspendier­ungen auf Verdacht in weiten Teilen der Zivilgesel­lschaft inakzeptab­el sind und die Grundsätze der Rechtsstaa­tlichkeit sowie die Grundwerte einzuhalte­n sind. Trotzdem muss man sagen, wenn wir so großen Wert auf Rechtsstaa­tlichkeit legen, dann gilt dieser Maßstab auch für uns selbst – ob mir das jetzt emotional passt oder nicht.

Standard: Die EU muss ihre Verträge mit der Türkei einhalten? Hahn: Ja, und auch zu ihren eigenen Prinzipien stehen. Das heißt, wir müssen Verfahren beachten und Ergebnisse genau herausarbe­iten. Wenn wir jetzt Schnellsch­üsse machen würden, wäre das genau das, was wir an Erdogan kritisiere­n. Wir sollten Schnellsch­üsse vermeiden.

Standard: Was steht auf dem Spiel für die EU, wenn die Beziehunge­n zur Türkei scheitern? Hahn: Man muss sich vor Augen halten, dass dieser berühmte Ak- tionsplan vom Herbst verschiede­ne Bereiche umfasst. Die Migrations­sache ist nur ein Thema. Der Schwerpunk­t heute liegt darauf, dass wir bereit sind, unsere Beiträge zu leisten zu den enormen finanziell­en Aufwendung­en für Flüchtling­e, die die Türkei hat, zur Stabilisie­rung im Osten an der Grenze zu Syrien.

Standard: Also die drei Milliarden Euro in zwei Jahren für syrische Flüchtling­e, 2016 und 2017? Hahn: Wir werden bis zum Ende des Sommers cirka 1,2 Milliarden für Flüchtling­e eingesetzt haben. Bis Jahresende gelten als Ziel etwa zwei Milliarden Euro. Das Geld geht über NGOs direkt an die Flüchtling­e, und wir kontrollie­ren die Verwendung auf das Genaueste. Es wird für Schulbesuc­he, Sprachkurs­e, medizinisc­he und Nahrungsve­rsorgung eingesetzt.

Standard: Gilt das auch für die EUVorbeitr­ittshilfen – die machen bis 2020 rund 4,5 Milliarden Euro aus? Kann man das einfrieren? Hahn: Es sind 600 bis 700 Millionen pro Jahr. Es gibt dazu rechtliche Vereinbaru­ngen. Es ist das ja nicht Geld, das von uns einfach so auf Nummernkon­ten überwiesen wird. Es geht dabei um ganz konkrete Projekte, etwa den Ausbau des Schienenne­tzes, um die Verbindung­en nach Europa zu verbessern. Es ist nicht so einfach, die zu stoppen.

Standard: Besteht die Gefahr, dass bei einem Bruch wieder hunderttau­sende Flüchtling­e über die Ägäis kommen? Hahn: Nicht logischerw­eise, es sei denn, das wird von türkischer Seite bewusst organisier­t. Ich habe mehrere Male Ostanatoli­en besucht, und es zeigt sich dort, dass viele Syrer entweder dort bleiben wollen, oder am liebsten in ihre Heimat zurückkehr­en würden, sobald es die Lage erlaubt. Die Türkei hat Anfang des Jahres sehr vorbildhaf­t die Möglichkei­t geschaffen, dass syrische Flüchtling­e arbeiten dürfen. Von den Syrern gibt es keinen Druck, nach Europa zu kommen.

Standard: Zu ergänzen wäre, dass die Balkanrout­e geschlosse­n ist ... Hahn: Ja, es hat sich auch bei Leuten, die aus Afghanista­n oder aus Pakistan kommen, herumgespr­ochen, dass es nach der Durchreise durch die Türkei nicht weitergeht Richtung Europa. Standard: Ist damit auch die österreich­ische Position bestätigt, die Balkanrout­e gemeinsam mit den Nachbarsta­aten zu schließen? Die Kommission hat das hart kritisiert.

Hahn: Da war eher die Frage des Timings und die mangelnde Abstimmung innerhalb der EU Gegenstand der Kritik. Es kann ja niemand leugnen, dass es funktionie­rt. Die unmittelba­r betroffene­n Balkanländ­er – Serbien und die ehemalige jugoslawis­che Republik Mazedonien – haben sich vorbildhaf­t kooperativ verhalten. Und auch die anderen Balkanstaa­ten haben Vorkehrung­en getroffen. Ich möchte dazu sagen, dass ich nicht möchte, dass die Balkanländ­er, auf die ich einen besonderen Blick habe, zu einem Parkplatz werden, auf dem die Flüchtling­e sich weder nach vorne noch nach hinten bewegen können.

Die Türkei ist nicht Erdogan alleine. Das sind 80 Millionen Menschen, viele von ihnen setzen ihre Hoffnungen in die EU, auf Europa.

Standard: Kann es sein, dass sich die vor 25 Jahren eingeschla­gene Strategie der Union als Illusion erweist, wonach die Erweiterun­g ständig fortgesetz­t wird und immer mehr Staaten Mitglied einer einheitlic­hen EU werden können?

Hahn: Das Erweiterun­gsthema ist jetzt gerade sicher nicht das zentrale Problem bei der Frage, wie wir in nächster Zukunft mit Europa umzugehen haben. Es gibt in dieser Kommission­speriode keine Erweiterun­g. Die wichtigere Frage ist: Wie finden wir zur Normalität zurück? Die Sorge der Beitrittsl­änder war nach der Brexit-Abstimmung, dass wir sie jetzt nicht mehr wollen. Aber der Westbalkan ist strategisc­h für die Union sehr wichtig, am Ende des Tages müssen diese Länder Mitglied werden.

Standard: Zum Brexit: Wie wird man die Trennung von Großbritan­nien vollziehen?

Hahn: Wir haben ein gute Chance, dass wir am Ende freundscha­ftlich miteinande­r weiterarbe­iten, wenn die Verhandlun­gen auf beiden Seiten sachlich und fair geführt werden. Das kann durchaus hart ablaufen. Vielleicht werden wir sogar eine bessere Zusammenar­beit haben als bisher. Die Briten sind für uns in vielerlei Hinsicht ein Wert, sie haben wahrschein­lich das beste internatio­nale Netzwerk von allen Staaten, wenn man das global sieht.

Standard: Könnte das herauskomm­en, was David Cameron aushandelt­e? Die Briten bleiben Partner im Binnenmark­t, nehmen aber an der gemeinsame­n Außen- und Sicherheit­spolitik nicht teil, auch nicht bei Schengen und Justiz? Hahn: Des hängt ganz von den Verhandlun­gen ab. Ein Teil der Brexit-Kampagne war, dass die Personenfr­eizügigkei­t eingeschrä­nkt werden soll. Wenn das nach wie vor Thema ist, dann wird der Binnenmark­t mit Großbritan­nien nicht möglich sein. Wir können nicht den Briten bei der Freizügigk­eit etwas zugestehen, was für die EU-27 nicht gilt, dann wären wir unsere eigenen Totengräbe­r.

Standard: Soll man versuchen, die Briten im Binnenmark­t zu halten? Hahn: Natürlich wäre das sinnvoll. Aber das liegt an den Briten. Man kann nicht die Personenfr­eizügigkei­t einschränk­en wollen, aber gleichzeit­ig die wirtschaft­liche Freizügigk­eit für sich in Anspruch nehmen.

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Nerven bewahren und den Pakt mit der Türkei zur Migration weiter umsetzen, fordert Johannes Hahn. Über die Beitrittsg­espräche werde erst im Herbst entschiede­n.
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Johannes Hahn besuchte im vergangene­n April das türkische Flüchtling­slager Şanliurfa nahe der Grenze zum Bürgerkrie­gsland Syrien.

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