Der Standard

Frankreich diskutiert über „Jihad ohne Islam“

Während in Deutschlan­d eine Verstärkun­g der öffentlich­en Sicherheit verlangt wird, erkennt Frankreich langsam die Grenzen einer solchen Politik. Die Fokussieru­ng auf den Islam wird infrage gestellt.

- Stefan Brändle aus Paris

Charlie Hebdo, Bataclan, Nizza: Frankreich ist seit 2015 von mörderisch­en Attentaten heimgesuch­t worden, die zusammenge­nommen fast tausend Tote und Verletzte forderten. Weniger erinnerlic­h ist, dass es in Frankreich auch zu mehreren kleineren Messeratta­cken oder Amokfahrte­n kam, die zum Teil wohl Nachahmert­aten waren – vor Weihnachte­n 2014 fuhren zum Beispiel zwei Männer in Dijon und Nantes binnen zweier Tage in Menschenme­ngen (wobei es glückliche­rweise nur Verletzte gab). Die Reaktion der Behörden ging nicht so weit wie in den USA nach 9/11. Die Linksregie­rung von François Hollande hat die Antiterror­gesetze aber auch massiv verschärft und sonst eine Reihe von Einzelerla­ssen – wie etwa die Einschränk­ung des Waffenhand­els – verfügt. Vor allem hat sie den Ausnahmezu­stand dekretiert, welcher der Polizei massive Eingreifmö­glichkeit fern jeder richterlic­hen Kontrolle gibt.

Der Anschlag von Nizza hat aber gleichzeit­ig eine Wende eingeleite­t. Zum einen bleibt das Motiv weiterhin unklar. Der Täter bereitete die Tat offenbar mit einer Handvoll Komplizen monatelang vor. Außer dass er Videos von Enthauptun­gen durch die Terrormili­z IS anschaute, wurde aber bisher kein Bezug zu allfällige­n Drahtziehe­rn in Syrien festgestel­lt. Vor allem aber verstärkt die Lastwagena­ttacke den Eindruck vieler Franzosen, dass alles unternomme­n wurde, damit sich die Pariser Großanschl­äge nicht wiederhole­n – und doch ließ sich nicht einmal der besonders gefährdete Nationalfe­iertag schützen. Laut einer neuen Umfrage vermuten 54 Prozent der Befragten, dass der Ausnahmezu­stand gegen Terrorismu­s unwirksam sei. Vor „Nizza“hatte noch eine klare Mehrheit den verfassung­srechtlich­en Notstand gutgeheiße­n.

„Blutbad nicht verhindert“

Die Linkszeitu­ng L’Humanité übt scharfe Kritik: „Seit den Attentaten vom Jänner 2015 hält die Staatsführ­ung dem Terrorismu­s den gleichen Sicherheit­s- und Kriegsdisk­urs entgegen. Das hat das Blutbad von Nizza nicht verhindert.“Auch die konservati­ve Publizisti­n Natacha Polony findet, es brauche „keine neuen Gesetze oder erschöpfen­de Sicherheit­sübungen wie die Militärope­ration Sentinelle‘“, sondern den Wiederaufb­au einer nationalen Gemeinscha­ft, die kulturelle Werte teile und eine gemeinsame Geschichte anerkenne.

Dieser Meinung sind auch die Regisseure Mélanie Laurent und Cyril Dion, Autoren des viel beachteten Ökofilms Demain (Morgen). Um die „Spirale der Gewalt zu stoppen, sei „mehr Kultur, mehr Bildung, mehr Gerechtigk­eit“nötig, und zwar vor allem in den bekannten Einwandere­rghettos, in denen Misere, Frustratio­n und Rachegefüh­le grassierte­n.

Kritik an Hollande

Der Soziologe Michel Wieviorka glaubt allerdings, dass der „soziale Determinis­mus“– die Erklärung des französisc­hen Jihadismus mit der Banlieue-Problemati­k – längst nicht mehr genüge. „Um den Terrorismu­s zu verstehen, müssen wir von Fall zu Fall, von Individuum zu Individuum vorgehen, ohne Vorurteil über sein religiöses Gepäck.“Deshalb greife man in diesem Bereich auch wieder vermehrt auf die Psychoanal­yse zurück, meint Wieviorka. Nur so könne man Typologien wie den Attentäter von Nizza erfassen.

Kritisiert wird neuerdings auch Hollandes Wortwahl, nachdem er vor einem Jahr noch viel Lob für seine besonnene Reaktion auf die Pariser Terroransc­hläge erhalten hatte. Von allen Seiten muss sich der Präsident vorhalten lassen, dass er nach dem Anschlag von Nizza den „Islamismus“gebrandmar­kt habe, bevor die Staatsanwa­ltschaft Details bekanntgeg­eben hatte. Das rügt auch der JihadExper­te Raphaël Liogier, laut dem diese Täter eine Art „Jihad ohne Islam“betreiben.

„Diese Individuen haben nur ein narzisstis­ches Bedürfnis zu existieren. In den 1990er-Jahren bildete Al-Kaida mit Theologen noch richtige Jihadisten aus, die Arabisch und den Koran lernten. Heute findet eine Entprofess­ionalisier­ung des Terrorismu­s statt. Wenn François Hollande sagt, Frankreich sei im Krieg gegen den Islamismus, verstärkt er diesen Trend nur noch.“

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Straßensze­ne in Marseille, wo die Bevölkerun­g ihre Solidaritä­t mit der Stadt Nizza mit dem Spruch „Gemeinsam vereint“bekundet hat.

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