„Mama Merkel“hält nicht, was sie nie versprochen hat
Junge männliche Flüchtlinge: Hoffnungsträger ihrer Familien und eine niedrige Frustrationsschwelle
ANALYSE:
Sexuelle Übergriffe, Gewalttaten, islamistische Anschläge: Statistiken, die die Verbrechen von Flüchtlingen in Relation setzen, helfen da nicht viel, um die Menschen zu beruhigen. Zweimal hintereinander haben nun in Deutschland junge syrische Männer zugeschlagen: zwei Bluttaten, die wenig miteinander zu tun haben außer der Herkunft des Täters. Aber „Wen haben wir uns da ins Land geholt?“fragen sich auch solche Menschen, die mit Kanzlerin Angela Merkels Flüchtlingspolitik prinzipiell einverstanden sind – oder waren.
Erst langsam laufen die Forschungen darüber an, wer sie eigentlich sind, die Flüchtlinge: In Österreich etwa hat das Außenministerium bei der Akademie der Wissenschaften (Institut für Sozialanthropologie ISA, Institut für Stadt- und Regionalforschung ISR) eine Studie in Auftrag gegeben, die soziodemografische Daten sowie Aufschlüsse über Wertehaltungen, Erwartungen und Pläne von syrischen, irakischen und afghanischen Flüchtlingen liefern soll. Das ISA hat das interdisziplinäre Netzwerk „Refugee Outreach & Research Network“gegründet. Flüchtlingsforschung wird immer wichtiger.
Die Wahrnehmung, dass besonders viele „wütende junge Männer“fliehen, wird zwar gerade im Fall Syriens von der allgemeinen Flüchtlingsstatistik nicht bestätigt: Laut Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR ist fast die Hälfte der aus Syrien Geflüchteten weiblichen Geschlechts. Aber der Eindruck, dass mehr junge Männer aus den Nachbarländern Syriens auf den Weg nach Europa geschickt werden, ist richtig – auch wenn sich seit 2015 so viele Familien auf den Weg gemacht haben wie noch nie.
Alles ist ganz anders
Die Beweggründe dafür, junge Männer vorzuschicken sind ähnlich, gleich, aus welchem Land sie kommen: Man traut ihnen zu, die Flucht auch ohne Schutz unbeschadet – damit ist nicht nur physischer Schaden gemeint – zu überstehen. Sie tragen, quasi als Vorhut, die Hoffnung der ganzen Familie mit sich: Einerseits hebt das ihre soziale Position – andererseits sinkt die Frustrationsschwelle, wenn sie das Erwartete nicht leisten können. Weil alles ganz anders ist, als sie es sich vorgestellt haben.
Und das ist es auf alle Fälle: Was dem großen Exodus aus den nahöstlichen Flüchtlingslagern im Spätsommer und Herbst 2015 voranging, hatte massenhysterische Züge insofern, als manche Flüchtlinge tatsächlich glaubten, dass sie in Deutschland eine eingerichtete Wohnung, ein Auto und Ähnliches erwarteten. Die Idealisierung von „Mama Merkel“erinnert an den nahöstlichen Umgang mit Führergestalten, die im Tausch für Unterwerfung verpflichtet sind, für den loyalen Untertanen zu sorgen: Patron und Klient, ein symbiotisches Verhältnis. So haben es die arabischen Diktaturen ja auch tatsächlich gemacht. Erst als dies durch Strukturwandel, Bevölkerungswachstum und Wirtschaftskrise immer weniger funktionierte, zerbrach der Kontrakt. In den reichen arabischen Golfstaaten gilt er noch immer.
In Deutschland (und anderen Aufnahmeländern) wird jedoch nicht nur gegeben – und weniger, als viele zuvor erwartet haben –, sondern auch verlangt: vom in der Flüchtlingsunterkunft den Mist selbst Wegräumen bis zum Deutschlernen, oft mit einer weiblichen Lehrkraft, die einen korrigiert statt bewundert.
Die andere „Kultur“, die zu diesen Missverständnissen führe, wird oft erwähnt. Schon alleine, weil sie nur schwer nachvollziehbar sind, wird jedoch die Frage der sozialen Verhältnisse meist außer Acht gelassen. Eine syrische urbane Mittelstandsfamilie weiß im Normalfall ganz gut, wie die westlichen Gesellschaften funktionieren, mehr noch als bei uns hat etwa die Ausbildung der Kinder einen hohen Stellenwert.
Aber die Struktur der syrischen Bevölkerung hat sich gerade in den Jahren vor Kriegsbeginn verändert: Bashar al-Assads wenngleich vorsichtiger Wirtschaftsumbau hat neue arme Schichten entstehen lassen, dazu kam die anhaltende Dürre seit den 2000er Jahren, die viele Bauern und Hirten ihrer Existenz beraubte und in die Städte trieb. Auch unter den Flüchtlingen gibt es diesen Anteil von sozial Schwachen, Ungebildeten, die hier völlig von vorn anfangen, sich aber erst die Fähigkeiten dazu erwerben müssen.
Reislamisierung
Viele ältere Syrer sehen ihre Heimat vor allem als Teil des Mittelmeerraums, Islam ist da kein starker Identitätsmarker. Aber auch das hat sich bei den Jüngeren geändert: Die Reislamisierung der letzten Jahrzehnte hat, auch wenn das viele Syrer und Syrerinnen lange nicht wahrhaben wollten, das Land verändert. Der sunnitische islamistische Sektor blühte unter einem Regime, das seine Minderheitenpolitik manipulativ einsetzte. Die Anlage zum Radikalismus nehmen manche mit auf die Flucht, eine traurige Option im Falle eines Scheiterns.