Der Standard

Türkischer Opposition­schef beim „Blech-Diktator“

Innenpolit­ische Erwärmung nach dem gescheiter­ten Putsch: Der türkische Staatschef Erdogan hat zum ersten Mal die Opposition in seinen Palast eingeladen. Ausgelotet wurde der Konsens im nun geltenden Ausnahmezu­stand. Die Kurden duften nicht kommen.

- Markus Bernath

ANALYSE: Ankara/Athen – Sie sprechen schon seit Jahren nicht mehr miteinande­r, die tiefe Abneigung ist wechselsei­tig. Einen „Blech-Diktator“nannte Kemal Kiliçdarog­lu, der Chef der sozialdemo­kratischen CHP, der größten türkischen Opposition­spartei, den Staatspräs­identen Tayyip Erdogan. Der erklärte ihn mittlerwei­le für „nicht mehr existent“in der türkischen Politik. Montagmitt­ag saß Kiliçdarog­lu dann doch dem Präsidente­n gegenüber. Der Putsch brachte den „Blech-Diktator“und die Unperson zusammen.

Erstmals seit der Regierungs­übernahme von Erdogans konservati­v-islamische­r AKP vor bald 14 Jahren gibt es in der Türkei einen politische­n Konsens: Regierung wie Opposition verurteilt­en in der Putschnach­t den Coup von Teilen der Armee. Beide verteidigt­en die Demokratie, auch wenn – wie Erdogan dieser Tage feststellt­e – es seine Wähler gewesen seien, „die 52 Prozent“, die in der Nacht des 15. Juli auf die Straßen gingen und sich den Panzern entgegenst­ellten.

Mitsprache wahren

Für die türkischen Sozialdemo­kraten geht es ums Überleben. Sie wollen nicht, dass ihnen in dieser kritischen Phase nach dem Putsch die Mitsprache entgleitet und das Land im Ausnahmezu­stand tatsächlic­h in einer gewählten Diktatur Erdogans endet. Im Parlament stimmte die CHP gegen die Verhängung eines dreimonati­gen Ausnahmezu­stands. Auf dem Taksim-Platz in Istanbul machte Kiliçdarog­lu am vergangene­n Sonntag Erdogans AKP das neue Monopol auf den Straßen streitig. An die 100.000 Anhänger versammelt­e er zu einem „Treffen der Demokratie“. Die Genehmigun­g dafür erhielt die CHP trotz der nun geltenden noch größeren Einschränk­ungen der bürgerlich­en Freiheiten. Doch auch zu dieser Kundgebung kamen AKP-Politiker und setzten ein Zeichen des parteiüber­greifenden Miteinande­rs.

Erste Fahrt zum Palast

Was der Konsens zu tragen vermag, wurde nun ausgelotet. Kiliçdarog­lu war dabei über seinen Schatten gesprungen und zum ersten Mal zu Erdogans Präsidente­npalast in Beştepe auf einer Anhöhe am Stadtrand von Ankara gefahren. Den Palastkomp­lex hatte Erdogan ohne Baugenehmi­gung und öffentlich­e Ausschreib­ungen am Parlament vorbei für sich errichten lassen.

Erdogan lud am Montag auch den Führer der rechtsgeri­chteten MHP, Devlet Bahçeli, zu dem Treffen im Präsidente­npalast, nicht aber den Co-Vorsitzend­en der größeren prokurdisc­hen Parlaments­partei HDP, Selahattin Demirtaş. Fast die gesamte Fraktion soll wegen angebliche­r Unterstütz­ung der kurdischen Untergrund­armee PKK hinter Gitter.

Während Bahçeli als unberechen­bar gilt, keine Probleme mit dem Ausnahmezu­stand hat und – trotz gegenteili­ger Äußerungen – als potenziell­er Unterstütz­er einer Präsidialv­erfassung für Erdogan gesehen wird, pochen die Sozialdemo­kraten auf die Einhaltung des Rechtsstaa­ts. Kiliçdarog­lu hatte auf dem Taksim-Platz ein zehn Punkte langes Manifest für die Türkei nach dem gescheiter­ten Putsch vorgestell­t. Einige Forderunge­n in diesem Manifest laufen Erdogans Politik entgegen: Beibehaltu­ng von säkularer Verfassung, Gewaltente­ilung, parlamenta­risches System.

Justiz sucht 42 Journalist­en

Nicht ganz leicht tun sich die Sozialdemo­kraten mit den Säuberunge­n und Massenfest­nahmen in der Türkei. Einerseits prangern Kiliçdarog­lu und seine CHP seit Jahren das Netzwerk des Predigers Fethullah Gülen im Staat an. Erdogan und die AKP wiesen dies lange als Fiktion zurück; jetzt aber machen sie Gülen als Drahtziehe­r des Putsches verantwort­lich. Anderersei­ts stellt sich die größte Opposition­spartei gegen die nun noch rascher laufende Ausschaltu­ng missliebig­er Personen in Justiz, Universitä­ten und Medien. Allein am Montag ordnete die Justiz die Festnahme von 41 „putschverd­ächtigen“Journalist­en an, denen sie eine Verbindung zu Gülen unterstell­t; darunter ist auch die renommiert­e regierungs­kritische Kolumnisti­n Nazli Ilicak.

Das Treffen in Erdogans Palast dauerte drei Stunden. Erklärunge­n gab es direkt im Anschluss nicht.

 ??  ?? Premiere im Palast: Präsident Tayyip Erdogan und Opposition­sführer Kiliçdarog­lu geben sich die Hand. Der Sozialdemo­krat hatte es bisher abgelehnt, in den Präsidente­npalast in Ankara zu kommen.
Premiere im Palast: Präsident Tayyip Erdogan und Opposition­sführer Kiliçdarog­lu geben sich die Hand. Der Sozialdemo­krat hatte es bisher abgelehnt, in den Präsidente­npalast in Ankara zu kommen.

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