Türkischer Oppositionschef beim „Blech-Diktator“
Innenpolitische Erwärmung nach dem gescheiterten Putsch: Der türkische Staatschef Erdogan hat zum ersten Mal die Opposition in seinen Palast eingeladen. Ausgelotet wurde der Konsens im nun geltenden Ausnahmezustand. Die Kurden duften nicht kommen.
ANALYSE: Ankara/Athen – Sie sprechen schon seit Jahren nicht mehr miteinander, die tiefe Abneigung ist wechselseitig. Einen „Blech-Diktator“nannte Kemal Kiliçdaroglu, der Chef der sozialdemokratischen CHP, der größten türkischen Oppositionspartei, den Staatspräsidenten Tayyip Erdogan. Der erklärte ihn mittlerweile für „nicht mehr existent“in der türkischen Politik. Montagmittag saß Kiliçdaroglu dann doch dem Präsidenten gegenüber. Der Putsch brachte den „Blech-Diktator“und die Unperson zusammen.
Erstmals seit der Regierungsübernahme von Erdogans konservativ-islamischer AKP vor bald 14 Jahren gibt es in der Türkei einen politischen Konsens: Regierung wie Opposition verurteilten in der Putschnacht den Coup von Teilen der Armee. Beide verteidigten die Demokratie, auch wenn – wie Erdogan dieser Tage feststellte – es seine Wähler gewesen seien, „die 52 Prozent“, die in der Nacht des 15. Juli auf die Straßen gingen und sich den Panzern entgegenstellten.
Mitsprache wahren
Für die türkischen Sozialdemokraten geht es ums Überleben. Sie wollen nicht, dass ihnen in dieser kritischen Phase nach dem Putsch die Mitsprache entgleitet und das Land im Ausnahmezustand tatsächlich in einer gewählten Diktatur Erdogans endet. Im Parlament stimmte die CHP gegen die Verhängung eines dreimonatigen Ausnahmezustands. Auf dem Taksim-Platz in Istanbul machte Kiliçdaroglu am vergangenen Sonntag Erdogans AKP das neue Monopol auf den Straßen streitig. An die 100.000 Anhänger versammelte er zu einem „Treffen der Demokratie“. Die Genehmigung dafür erhielt die CHP trotz der nun geltenden noch größeren Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten. Doch auch zu dieser Kundgebung kamen AKP-Politiker und setzten ein Zeichen des parteiübergreifenden Miteinanders.
Erste Fahrt zum Palast
Was der Konsens zu tragen vermag, wurde nun ausgelotet. Kiliçdaroglu war dabei über seinen Schatten gesprungen und zum ersten Mal zu Erdogans Präsidentenpalast in Beştepe auf einer Anhöhe am Stadtrand von Ankara gefahren. Den Palastkomplex hatte Erdogan ohne Baugenehmigung und öffentliche Ausschreibungen am Parlament vorbei für sich errichten lassen.
Erdogan lud am Montag auch den Führer der rechtsgerichteten MHP, Devlet Bahçeli, zu dem Treffen im Präsidentenpalast, nicht aber den Co-Vorsitzenden der größeren prokurdischen Parlamentspartei HDP, Selahattin Demirtaş. Fast die gesamte Fraktion soll wegen angeblicher Unterstützung der kurdischen Untergrundarmee PKK hinter Gitter.
Während Bahçeli als unberechenbar gilt, keine Probleme mit dem Ausnahmezustand hat und – trotz gegenteiliger Äußerungen – als potenzieller Unterstützer einer Präsidialverfassung für Erdogan gesehen wird, pochen die Sozialdemokraten auf die Einhaltung des Rechtsstaats. Kiliçdaroglu hatte auf dem Taksim-Platz ein zehn Punkte langes Manifest für die Türkei nach dem gescheiterten Putsch vorgestellt. Einige Forderungen in diesem Manifest laufen Erdogans Politik entgegen: Beibehaltung von säkularer Verfassung, Gewaltenteilung, parlamentarisches System.
Justiz sucht 42 Journalisten
Nicht ganz leicht tun sich die Sozialdemokraten mit den Säuberungen und Massenfestnahmen in der Türkei. Einerseits prangern Kiliçdaroglu und seine CHP seit Jahren das Netzwerk des Predigers Fethullah Gülen im Staat an. Erdogan und die AKP wiesen dies lange als Fiktion zurück; jetzt aber machen sie Gülen als Drahtzieher des Putsches verantwortlich. Andererseits stellt sich die größte Oppositionspartei gegen die nun noch rascher laufende Ausschaltung missliebiger Personen in Justiz, Universitäten und Medien. Allein am Montag ordnete die Justiz die Festnahme von 41 „putschverdächtigen“Journalisten an, denen sie eine Verbindung zu Gülen unterstellt; darunter ist auch die renommierte regierungskritische Kolumnistin Nazli Ilicak.
Das Treffen in Erdogans Palast dauerte drei Stunden. Erklärungen gab es direkt im Anschluss nicht.