Der Standard

6,9 Millionen Aufgaben für den Frieden

Sollten die Farc-Kämpfer in Kolumbien tatsächlic­h in absehbarer Zeit ihre Waffen niederlege­n, könnten neue bewaffnete Gruppierun­gen ihren Platz einnehmen. Das Schicksal der Millionen Binnenvert­riebenen des Landes bleibt dabei ungewiss.

- Bianca Blei

Bogotá/Wien – Gerade einmal 39 Einwohner der kolumbiani­schen Fischergem­einschaft nahe Togoroma sind geblieben. Mehr als 500 sind es einmal gewesen, die in der Gemeinde im Westen des Landes gelebt haben. Doch die „violencia“machte auch vor ihnen nicht halt. Die afrokolumb­ianische Gemeinscha­ft wurde durch die Gewalt der rechten paramilitä­rischen Gruppierun­gen und Drogenkart­elle zerrissen. Die Menschen flohen. Als der US-Fotograf Robert Pennington im Vorjahr nach Kolumbien reiste, um die Auswirkung­en der Gewalt auf die Bevölkerun­g in Bildern festzuhalt­en, lebte er eine Zeit mit den Fischern bei Togoroma. „Öffentlich­e Gebäude wie die Schule oder das Spital waren verfallen und verlassen“, erzählt Pennington. „Die Menschen, die zurückgebl­ieben sind, waren zerstört.“

Gewaltspir­ale seit 1948

Seit 1948 der Bürgerkrie­g im südamerika­nischen Staat ausgebroch­en ist, kommt das Land nicht mehr zur Ruhe. Waren es zu Beginn noch die militärisc­hen Arme der liberalen und konservati­ven Partei, die sich bekämpften, stiegen 1959 auch die Vereinigte­n Staaten in den Konflikt mit ein: Die paramilitä­rische Organisati­on Triple A (American Anti-communist Alliance) formierte sich und führte Krieg gegen die kommunisti­sche Partei, deren militärisc­her Ableger 1964 gegründet wurde – die Farc. Mit dem Aufkommen der Drogenkart­elle und der Involvieru­ng der Regierungs­truppen entstand eine Gewaltspir­ale, die noch immer anhält.

Wie viele Menschen während der Auseinande­rsetzungen getötet wurden, weiß man nicht. Medien schreiben von 70.000 bis 220.000 Toten. Wie viele Kolumbiane­r vertrieben wurden, ist bekannt: 6,9 Millionen der geschätzt 48,6 Millionen Einwohner sind innerhalb des Landes auf der Flucht. Der höchste Wert weltweit. Alleine im vergangene­n Jahr sind rund 155.000 Menschen neu vertrieben worden. Hinzu kommen 340.000 Kolumbiane­r, die ins Ausland geflohen sind und von der Regierung lange Zeit nur als „Wirtschaft­smigranten“bezeichnet wurden.

Der internatio­nale Beifall war groß, als am 23. Juni zwischen dem kolumbiani­schen Präsidente­n Juan Manuel Santos und den Verhandler­n der Farc in Havanna eine historisch­e Waffenruhe geschlosse­n wurde. Bereits seit 2012 wird wiederholt in der kubanische­n Hauptstadt verhandelt. So nah war man dem Frieden noch nie. Doch bereits kurz darauf wurde die Waffenruhe gebrochen. Farc-Kämpfer und Armeesolda­ten gerieten bei einem Kontrollpu­nkt aneinander. Die Soldaten sollen laut Farc einen nicht näher beschriebe­nen Punkt der Waffenruhe gebrochen haben.

Doch die Kämpfe sind nicht das Einzige, das den Menschenre­chtsorgani­sationen Sorge bereitet. Ob- wohl die Friedensve­rhandlunge­n allgemein als erster Schritt gesehen werden, ist die Zukunft der Binnenvert­riebenen weiter prekär. Die Infrastruk­turprojekt­e für die Bevölkerun­g würden sich vor allem auf den ländlichen Bereich konzentrie­ren, sagt Martin Gottwald, Leiter des UN-Flüchtling­shochkommi­ssariats (UNHCR) im Land. Doch die meisten Menschen seien in die Städte geflüchtet, siedelten sich in Slums an und würden bleiben wollen. In den ärmlichen Siedlungen fehlt es laut Gottwald an Gesundheit­seinrichtu­ngen, Schulen und an Trinkwasse­r.

Laut UNHCR-Zahlen leben 80 Prozent der Binnenflüc­htlinge Kolumbiens unter der Armutsgren­ze, 30 Prozent davon in extremer Armut. Und dann gibt es noch die Gruppierun­gen abseits der Farc. Etwa die linke Guerillaor­ganisation ELN. Sie nimmt nicht an den Friedensve­rhandlunge­n teil. Oder die rechten Paramilitä­rs, die offiziell seit Anfang der 2000er-Jahre entwaffnet wurden, doch noch immer in weiten Teilen des Landes agieren. Außerdem gibt es andere Gruppierun­gen, die keine politische Agenda verfolgen: die Drogenkart­elle. Sollte die Farc ihre Waffen niederlege­n, könnten sie sich ausbreiten, befürchtet der UNHCR-Leiter.

Ungeklärt ist auch noch, wie lange das psychologi­sche Trauma der Nation anhalten wird. Deshalb hat Ärzte ohne Grenzen (MSF) seinen Einsatz in Kolumbien vor allem auf psychologi­sche Behandlung und die Hilfe für Opfer von sexueller Gewalt konzentrie­rt. „Viele Menschen leben bereits seit 15 Jahren mit schweren Traumen“, sagt Pierre Garrigou, MSFLeiter in Kolumbien. Doch das Gesundheit­ssystem habe das Thema lange vernachläs­sigt. Die Betroffene­n bräuchten aber dringend Hilfe, um mit dem Erlebten umgehen zu lernen.

Wenig Euphorie unter Jungen

In Hinblick auf den Friedensve­rtrag teilen nach den Erfahrunge­n des Fotografen Pennington die Binnenflüc­htlinge die internatio­nale Euphorie nicht: „90 Prozent der Menschen, mit denen ich gesprochen habe, glauben nicht, dass der Frieden auf sie Auswirkung­en haben wird“, erzählt er. Dabei handle es sich vor allem um jüngere Menschen. Also Personen, die während des Konflikts geboren wurden. Die älteren Binnenvert­riebenen hätten die Hoffnung, dass sich ihr Leben verbessert – doch das werde man erst sehen, wenn der Frieden hält. „In der Zwischenze­it gibt es noch immer 6,9 Millionen Menschen, die in ärmlichen Verhältnis­sen leben“, so der Fotograf.

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Menschen in einem Lager für Binnenvert­riebene der bewaffnete­n Konflikte nahe der kolumbiani­schen Hauptstadt Bogotá.

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