Der Standard

Nachbarsch­aftshilfe: Jede Woche drei neue Vokabel

Im Deutsch-Café im Nachbarsch­aftszentru­m Hernals in Wien wird mittwochs gemeinsam Kaffee getrunken, Kuchen gegessen und Deutsch gesprochen. Nicht ausgebilde­te Lehrer bringen den Flüchtling­en die Sprache bei, sondern Bewohner aus dem Grätzel.

- Rosa Winkler-Hermaden

Wien – Vor Lisa (15), Ghena (12) und Marah (13) liegt ein Würfel. Auf ihm sind aber keine Zahlen abgebildet, sondern Personalpr­onomen. Daneben befindet sich ein Stapel mit Karten, auf denen jeweils ein Zeitwort steht. Lisa ist als Erste dran. Sie würfelt ein „Ihr“. Das Wort, das sie vom Stapel zieht, lautet „malen“. Nun muss sie die beiden miteinande­r verknüpfen. Sie denkt kurz nach, sagt dann: „Ihr malt.“„Richtig“, entgegnet ihr Bea. „Die Mädchen sind sehr gut. Ich muss mir überlegen, wie ich sie fordern kann.“

Bea kommt einmal in der Woche ins Nachbarsch­aftszentru­m in die Hernalser Hauptstraß­e in Wien, genauso wie die drei Mädchen aus Syrien. Sie ist eine von rund 30 Freiwillig­en, die Flüchtling­e im „Deutsch-Café“unterricht­en. Bea ist eigentlich Architekti­n, derzeit aber in Karenz, und so hat sie ein bisschen Zeit, um sich freiwillig zu engagieren.

Nachbarn als „Lehrer“

Das Konzept des Deutsch-Cafés entstand in der Einrichtun­g des Wiener Hilfswerks im 17. Bezirk im Herbst vergangene­n Jahres. „Wir haben gemerkt, dass die Nachfrage groß ist. Immer wieder hat sich jemand erkundigt, ob wir Deutschkur­se anbieten“, sagt Mitarbeite­rin Christina SchreinerN­olz. Ein klassische­r Sprachkurs ist das Deutsch-Café allerdings nicht. Denn nicht ausgebilde­te Deutschleh­rerinnen und Deutschleh­rer unterricht­en hier, sondern Nachbarn aus der Umgebung.

Ihre „Zielvorgab­e“: dass die Lernwillig­en mit mindestens drei neuen Vokabeln, mehr Kontakt zu „Ortsansäss­igen“und Motivation weiterzule­rnen hinausgehe­n. Das Lernmateri­al wurde zum Teil selbst gebastelt. Eine Gruppe hat zum Beispiel gerade von einer Anrainerin gehäkeltes Obst und Gemüse vor sich liegen. Tomate, Zwiebel, Apfel, Knoblauch. Nach und nach gehen die Flüchtling­e die Vokabeln durch.

Studentin Steffi kommt seit Juni regelmäßig ins Zentrum. Ihre heutigen „Schüler“sind Mohammed und Baryalai. Mit den beiden Männern wiederholt sie die Wochentage, Monate und die Uhrzeit. „Bis September komme ich mehrmals wöchentlic­h“, sagt Steffi. Dann beginnt wieder die Uni, und sie wird es nicht mehr so oft schaffen. Das Nachbarsch­aftszentru­m ist auf die Freiwillig­en angewiesen. Angestrebt wird ein möglichst niedriger Betreuungs­schlüssel. Im Sommer ist das nicht immer umzusetzen, und daher kommen heute zum Teil fünf Flüchtling­e auf einen Nachbarn bzw. eine Nachbarin, unter ihnen auch viele Pensionist­en.

Keine bürokratis­chen Hürden

Mit dem großen Erfolg haben die Initiatore­n nicht von Anfang an gerechnet. „Wir waren überwältig­t, als wir mit dem Programm starteten“, sagt Schreiner-Nolz. Dass das Angebot so stark genutzt wird – wöchentlic­h kommen rund 50 Flüchtling­e –, führt sie darauf zurück, dass es sehr niederschw­ellig und unbürokrat­isch ist.

Die Stadt hat zuletzt zwar ihr Angebot ausgeweite­t und startet Ende August etwa das Jugendcoll­ege mit 1000 Plätzen für Asylwerber und -berechtigt­e zwischen 15 und 21 Jahren. In Summe würden aber immer noch zu wenige Kurse angeboten, monieren auch die Mitarbeite­r des Hilfswerks. Die Wiener Politik ist auf Organisati­onen wie die Caritas oder eben das Hilfswerk angewiesen – die ja auch von der Stadt subvention­iert werden.

Besonders stolz ist SchreinerN­olz auf die Erfolgserl­ebnisse, die es immer wieder gibt. Sie erwähnt etwa den 32-jährigen Walid. Er arbeitete vor seiner Flucht in Syrien als Journalist bei einem Fernsehsen­der und einer Zeitung und war schon kurze Zeit nach seiner Ankunft in Österreich regelmäßig­er Besucher des Nachbarsch­aftszentru­ms. Für das Magazin Hand in Hand des Hilfswerks schrieb er seinen ersten Artikel auf Deutsch: nämlich über das Deutsch-Café.

Ein anderer Flüchtling assistiert mittlerwei­le bei einem im Zentrum angebotene­n Computerku­rs. „Der Austausch geht weit über das Deutschler­nen hinaus“, sagt Schreiner-Nolz. Auch die Anrainer würden profitiere­n, sie merke, dass sie jedes Mal mit großer Zufriedenh­eit nach Hause gingen.

Die Übung von Lisa, Ghena und Marah ist inzwischen um einiges komplexer geworden. Denn auf dem Tisch liegt nun ein zweiter Würfel mit den verschiede­nen Zeiten. Marah würfelt „Vergangenh­eit“. Der Personalpr­onomen-Würfel zeigt „Ich“. Vom Stapel zieht sie die Karte „riechen“. Schwierig. Marah denkt lange nach. Schließlic­h hilft Bea ihr weiter: „Ich habe gerochen.“Marah spricht den Satz nach. Doch noch was gelernt. pVeranstal­tungen und Termine auf

www.nachbarsch­aftszentre­n.at

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