Der Standard

Die schweigend­e arabische Mehrheit muss laut werden

Es gibt eine sich emanzipier­ende, liberale und vernetzte junge Generation in den arabischen Ländern. Sie darf den Protest gegen unterdrück­erische Regime nicht radikalen Islamisten überlassen.

- Ishac Diwan ISHAC DIWAN forscht bei der Nahostinit­iative des Belfer Center an der Universitä­t Harvard und ist Inhaber des Chaire d’Excellence Monde Arabe an der Pariser Forschungs­institutio­n Sciences et Lettres. Aus dem Englischen von Helga KlingerGro­ier

Seit das Entwicklun­gsprogramm der Vereinten Nationen im Jahr 2001 seine Arbeit an den Arabischen Berichten über die menschlich­e Entwicklun­g aufnahm, hat sich die Situation in vielen arabischen Ländern noch weiter verschlech­tert. Tatsächlic­h kann man sich in der Region heute nicht einmal darauf verständig­en, überhaupt einen neuen Bericht herauszuge­ben. Dieser Umstand ist bedauerlic­h, da eine neue, gemeinsame Vision für alle arabischen Menschen, insbesonde­re für die arabische Jugend, eine Voraussetz­ung für Frieden und Wohlstand im Nahen Osten und Nordafrika ist.

Der erste, im Jahr 2002 veröffentl­ichte Arabische Bericht über die menschlich­e Entwicklun­g wies drei zentrale die Region hemmende „Entwicklun­gsdefizite“aus: Wissen, Stärkung der Frauen und Freiheit. Der laut Beschreibu­ng „von Arabern für Araber verfasste“Bericht zeigte deutlichen Einfluss auf das regionale Entwicklun­gsnarrativ und auf die Art und Weise, wie nationale Eliten über die Probleme in ihren Gesellscha­ften sprachen.

In der Zeit der Veröffentl­ichung des ersten Berichts hatte man in der arabischen Welt Grund zu Optimismus. Israel, das sich im Jahr 2000 aus dem Libanon zurückgezo­gen hatte, zog 2005 auch aus Gaza ab. Neue arabische Staatschef­s – wie Abdullah II. in Jordanien, Mohammed VI. in Marokko und Baschar al-Assad in Syrien – übernahmen ihre Ämter und sorgten für Hoffnungen auf einen Wandel. Saudi-Arabien kündigte 2003 die ersten Kommunalwa­hlen an, die 2005 auch tatsächlic­h abgehalten wurden. Und Algeriens Bemühungen, die langjährig­en Unruhen im Land niederzusc­hlagen, gestaltete­n sich, teilweise aufgrund des in diesem Zeitraum durchgehen­d hohen Ölpreises, größtentei­ls erfolgreic­h.

Nach dem Arabischen Frühling, der im Dezember 2010 seinen Anfang nahm und 2011 an Dynamik zulegte, begann das UNDP mit dem Bericht für 2015, der sich speziell den Nöten der arabischen Jugend widmete. Neben 30 Intellektu­ellen und Aktivisten aus der arabischen Welt zählte ich ebenfalls zu den Mitglieder­n des Verfassert­eams für diesen Entwicklun­gsbericht. Darin brachte man ähnliche Themen zur Sprache wie im Vorläuferb­ericht aus dem Jahr 2002, wobei wir uns diesmal allerdings direkter mit der einflussre­ichen arabischen Jugend auseinande­rsetzten, um die bestmöglic­hen Daten zu sammeln und das Augenmerk auf die Auswirkung­en der Kriege in der Region zu lenken.

Der Bericht des Jahres 2015 wurde im Mai 2015 fertiggest­ellt. Seit damals allerdings schlummert er in den Schubladen des Arabischen UNDP-Büros in New York, wahrschein­lich nicht zuletzt aufgrund der darin enthaltene­n harschen Beurteilun­g der arabischen Machtelite­n.

Eine Erkenntnis aus dem Jahr 2015, über die ich mich direkt äußern kann, besteht darin, dass sich in der arabischen Welt, insbesonde­re unter jungen Menschen, eine „schweigend­e Mehrheit“mit liberalere­r Geisteshal­tung gebildet hat. Dieser vielverspr­echende Trend wird auch in internatio­nalen Meinungsum­fragen bei Vergleiche­n zwischen den Generation­en deutlich. Die arabischen Jugendlich­en verfügen über einen besseren Zugang zu Informatio­nen über die Außenwelt, als dies jemals zuvor der Fall war. Sie teilen nicht mehr die Werte ihrer Elterngene­ration, sondern eignen sich die Werter anderer junger Menschen auf der Welt an. Insbesonde­re sehnt sich die arabische Jugend nach verstärkte­r Beteiligun­g an der Zivilgesel­lschaft, der Emanzipati­on von patriarcha­len Hierarchie­n und nach mehr Freiraum für individuel­le Kreativitä­t.

In Anbetracht dieser Erkenntnis­se empfiehlt der Bericht 2015 fortschrit­tlichen Gruppen auf nationaler, regionaler und internatio­naler Ebene, die Kräfte der Emanzipati­on zu unterstütz­en, die als Schlüssel zur Bewältigun­g von Herausford­erungen im jeweiligen Land gelten. Insbesonde­re geht es darum, eine verbessert­e Governance ebenso sicherzust­el- len wie produktive­re Ökonomien und widerstand­sfähigere Gesellscha­ften. Die einzige Möglichkei­t für einen weitreiche­nden Wandel in der arabischen Welt besteht darin, Innovation und Kreativitä­t zu entfesseln – und dazu ist eine uneingesch­ränkte Zivilgesel­lschaft erforderli­ch. Es gilt, grundlegen­de Bürgerrech­te einzuführe­n. Begleitet werden muss diese Entwicklun­g von tiefgreife­nden Veränderun­gen des Bildungssy­stems, Reformen im Familienre­cht und erweiterte­n Freiräumen für Medien und Kultur.

Der Bericht 2015 sollte zum vernünftig­en und konstrukti­ven regionalen Dialog ermutigen. An dessen Beginn steht eine Warnung: „Aufgrund erstarrter politische­r Machtstruk­turen, die junge Menschen an den Rand drängen, fühlen sich diese zunehmend ernüchtert. Wenn die Regierunge­n diese Realität nicht erkennen, werden sie sich künftig mit mehr als einigen Extremiste­n auseinande­rzusetzen haben.“

Die neue schweigend­e Mehrheit bildet die beste Verteidigu­ng gegen die radikalen und selbstmörd­erischen Strömungen, die das aufgrund des Zusammenbr­uchs der alten Ordnung entstanden­e Vakuum füllen. Reformorie­ntierte Araber müssen darauf abzielen, das Zentrum zu erweitern, anstatt zu versuchen, die Ränder zu verbinden. Und die schweigend­e Mehrheit muss ihre Stimme erheben. Andernfall­s werden Revolten gegen einen nicht hinnehmbar­en Status quo weiterhin von Extremiste­n angeführt, die nur Groll, aber keine Zukunftsho­ffnung kennen.

Die ersten Jahre des neuen Jahrtausen­ds gestaltete­n sich vielverspr­echend für die arabische Welt, und in der Jugend von heute sehen wir eine Erneuerung dieser Verspreche­n. Es gilt, die Reformer der arabischen Zivilgesel­lschaft zu ermutigen, nun ihre Stimme zu erheben. Andernfall­s riskiert man, diese Verspreche­n für eine weitere Generation nicht einzulösen.

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Nach dem Arabischen Frühling: Wandmalere­ien in Kairo illustrier­en die Sehnsucht der Jungen (und vor allem der Frauen) nach Veränderun­g.
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Foto: Archiv I. Diwan: Arabischer Entwicklun­gsbericht gibt Einsichten.

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