Der Standard

Erdogans Poker

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FDie jüngsten Ereignisse haben in den demokratis­chen Ländern des Westens Angst und Sehnsucht nach Ordnung und Stabilität ausgelöst. Die Terroransc­hläge von Paris, Nizza, Würzburg und auch der Amoklauf in München, Rassenunru­hen in den USA und die Präsidents­chaftskand­idatur Trumps, die Auswirkung­en des Brexit und der Aufstieg der Rechtspopu­listen von Paris bis Wien, die Eurokrise und der Krieg auf Sparflamme in der Ukraine sind vielfältig­e Zeichen eines Umbruchs. ür uns in West- und Mitteleuro­pa bedeutet aber das, was sich dieser Tage in der Türkei abspielt, in mehrfacher Hinsicht die größte unmittelba­re Gefahr. Den wahren Hintergrun­d und Ablauf des gescheiter­ten Militärput­sches werden wohl erst die unabhängig­en Historiker beschreibe­n. Heute aber ist es die Antwort Präsident Erdogans, die gewaltsame Umwandlung seines Landes in eine Diktatur, die nicht nur in der Türkei, sondern im ganzen Westen Besorgniss­e über die unberechen­baren Folgen verbreitet.

Von Tag zu Tag steigt die Zahl der Verhaftete­n (13.000), der entlassene­n Lehrer (22.000), Universitä­tsprofesso­ren (1300), Richter und Staatsanwä­lte (3000). Nach der Verdreifac­hung des Pro-Kopf-Einkommens unter Erdogan bis 2012 sehen Wirtschaft­sexperten jetzt einen Abschwung vor allem beim Fremdenver­kehr und bei Auslandsin­vestitione­n voraus. Sein autoritäre­r Kurs stürzt das Land ins wirtschaft­liche, politische und soziale Chaos.

Die sicherheit­s- und außenpolit­ischen Folgen der Säuberungs­welle in der zweitgröß-

Iten Nato-Armee sind, vor allem hinsichtli­ch des internatio­nalen Kampfes gegen die Terrorband­en des „Islamische­n Staates“(IS), bedenklich. Erdogan spricht mehr über die angebliche­n verschwöre­rischen Umtriebe des in den USA lebenden Predigers Gülen und der Kurden als über den Terror des IS. m Zusammenha­ng mit den Pro-Erdogan-Demonstrat­ionen in Österreich (und Deutschlan­d) wies die Philosophi­n Isolde Charim zu Recht auf den brisanten Faktor des von Erdogan vertretene­n „transnatio­nalen türkischen Nationalis­mus“hin, wonach die Türkei dort ist, wo Türken sind. In Deutschlan­d zählt man fast drei Millionen türkischst­ämmige Einwohner, davon 1,5 Millionen deutsche Staatsbürg­er; in Österreich leben schätzungs­weise 300.000 Menschen mit türkischen Wurzeln. Die Sicherheit­sbehörden befürchten in beiden Ländern die Möglichkei­t eines „innertürki­schen Konflikts“zwischen der aus Ankara kontrollie­rten Pro-ErdoganMeh­rheit und den Gegnern des Präsidente­n.

Die größte Gefahr für die direkt betroffene­n Länder – Bulgarien, Griechenla­nd, Serbien, Österreich, Deutschlan­d – wäre freilich der Zusammenbr­uch des Flüchtling­sabkommens zwischen Türkei und EU. Seit 20. März kommen kaum noch Migranten nach Griechenla­nd. Die kooperatio­nswilligen EU-Staaten haben aber bisher ihre Verspreche­n nicht eingehalte­n und bloß 800 Syrer (von 2,5 Millionen) direkt aus der Türkei umgesiedel­t. Will die EU trotz der Empörung über Erdogans Rachefeldz­ug die versproche­ne Einführung von Visafreihe­it für türkische Bürger prüfen? Europa steht wieder einmal vor einer Gratwander­ung zwischen Moral und Realpoliti­k.

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