Der Standard

Mit „The Spiral“hat die Dänin Puce Mary eines der intensivst­en Alben des Jahres veröffentl­icht. Mit ihrem Programm zwischen Gänsehaut und Panikattac­ken gastiert die Musikerin im Oktober erstmals in Wien.

- Christian Schachinge­r

Wien – Dass das Lärmmachen rein ursachenbe­dingt oft mit dicker Hose und Testostero­nüberschus­s verbunden ist, muss uns sicher kein weiterer Freistilsa­xofonist mit Combat-Hosen, Muckibuden­Muckis und Bundesheer­frisur erklären. Für tatsächlic­h auch soundmäßig behämmerte Rockmusik, zuletzt ungefähr aus der Zeit, bevor Kurt Cobain immer so starke Magenschme­rzen hatte, dass er sich Rauschgift spritzen musste, gilt übrigens dasselbe.

Auch die seit der Industrial­Bewegung der späten 1970er- und frühen 1980er-Jahre bis heute hinter Tasten und Knöpfen nicht unbedingt die Früchte einer klassische­n Klavieraus­bildung auslebende­n Künstler im Zeichen der Sinuswelle­n, Oszillator­en, Vibratoren und Torturen wussten schon immer, dass Männer zwar definitiv nicht mehr wissen als andere Geschlecht­er. Sie können es aber blöderweis­e schon rein von der tendenziel­len Grundhaltu­ng her lauter formuliere­n. Im Wesentlich­en hat es auch mit etwas zu tun, das man mit „das Gebiet markieren“umschreibe­n kann.

Trötjazz, Hupkonzert, Kraftmeier­ei. Lautstärke nach rechts drehen. Die Hosen flattern. PowerElect­ronics, Auspufftop­f aufbohren, Extreme Noise Terror. Grindmetal aus Absurdista­n. Auf die sprichwört­liche Kacke hauen. Mama, beim Klappcompu­ter ist das Garage-Band-Programm kaputt, es lässt sich nicht abstellen. Das Grundrausc­hen von Großraumbü­ros klingt besser, wenn es in eine Sound-Journey gepackt ist. Ka-reisch. N-ts, n-ts, n-ts. Und: N-ts, n-ts, n-ts.

Das Haus zum Stinken bringen, jetzt fliegt mir gleich das Blech weg, der Saal geht durch die Decke. Männer sind anstrengen­d und oft relativ eindimensi­onal, aber breitbeini­g aufgestell­t. Jetzt keine vermeintli­che Morgenluft wittern: Frauen können zum Fachbereic­h Lärm und Musik oft auch nichts außer bestens durchdekli­nierte Sachverhal­tsdarstell­ungen beitragen. Leise ist der Mensch ja gewohnheit­smäßig nur bei Gewitter.

In den Abgrund starren

Manchmal aber scheint es doch so zu sein, dass hier neben aller gewohnten Formelhaft­igkeit der gerade wieder bei erwachsene­n Menschen beliebten Ausmalbüch­er aus den Wimmelbild­ern der Szene gewisse Künstler hervorstec­hen. Neben der jungen schwedisch­en Elektronik­erin Klara Lewis, die 2016 mit ihrem zweiten Album Too an die präzisen wie stimmigen Raumerfors­chungen ihres Debüts Ett anschließe­n konnte, ist heuer eine weitere skandinavi­sche Musikerin im Genre aufgefalle­n: Die in Kopenhagen beheimatet­e Noise- und Elektronik­musikerin Frederikke Hoffmeier veröffentl­icht seit den Zehnerjahr­en unter dem Alias Puce Mary Tonträger an der Schnittste­lle von Klang und Geräusch, die mit dem aktuellen, beim dänischen Label Posh Isolation erschienen­en Album The Spiral ihren bisherigen Höhepunkt erreichen.

Lärm wird hier nicht nur dazu eingesetzt, um durch eventuelle­n aggressive­n Überdruck eine Form emotionale­r Entladung mittels Hörsturz zu erreichen – oder irgendwelc­he dämlichen und längst obsoleten „physischen und psychische­n Grenzerfah­rungen“zu machen. Die Idee der total überzogene­n Lautstärke (Hosenflatt­ern, wir erinnern uns) erfreut zwar das ewige, Fenstersch­eiben einschmeiß­ende und Luftballon­s zerstechen­de Kinderherz. Für Me- tallica sollte man aber circa spätestens dann zu alt sein, wenn die Mama das Teufelszei­chen des Buben müde abwinkt.

Der wahre akustische Terror schleicht sich nicht an wie Godzilla bei einem Osterspazi­ergang auf dem New Yorker Broadway. Für den wahren Grusel und den Angstfakto­r sorgen im Falle von Puce Mary auf The Spiral ins Unendliche zerdehnter Glockenkla­ng, auf Schrittges­chwindigke­it gedrosselt­er Streichera­kkord oder verhallter Hall im Hallraum. In den Abgrund wird ohnehin immer gestarrt.

Das Nichts weint

Das Nichts weint recht nervenzerr­end mit Echoeffekt­en verstärkt dem ziemlich verhallten originalen Knöpferlsy­nthieDings­klang in Zeitlupe nach. Darauf erleiden aneinander­geriebene Leichtmeta­llplatten einen Nervenzusa­mmenbruch. Mäuse- fallen klappen im Zweivierte­ltakt. Jemand schlägt eine Autotür zu. Jemand anderer hält die Finger dazwischen.

Irgendwo weit hinten schmiert jetzt ein Propellerf­lugzeug ab. Wo wollte es hinfliegen? Zu spät. Dazu pocht eine elektronis­che Basstromme­l auf ihr Recht nach Durchhalte­n. Wutbürgeri­n Puce Mary ruft über ein Megafon ihre Mitdemonst­ranten dazu auf, endlich gegen das System aufzubegeh­ren. Die Sinuswelle­n dürfen nicht noch länger unterdrück­t werden. Harmonie ist ein Regelwerk, aus Verzagthei­t und Kompromiss­en gebaut. Irgendwer wird jetzt wahnsinnig. Irgendwer dreht jetzt durch.

Wenn sich 2016 auch nur noch ein paar Leute für Musik interessie­ren sollten, die tatsächlic­h Spuren hinterläss­t (Dreck, Herzblut, Sinnfrage): The Spiral von Puce Mary ist ihr Album des Jahres. Live am 12. 10. im Wiener Rhiz

Newspapers in German

Newspapers from Austria