Der Standard

Ein Jahr Flüchtling­sdrama: Was sich geändert hat

Am 27. August des Vorjahres änderte sich nicht nur die Flüchtling­spolitik. Mit dieser änderte sich auch das innere Verhältnis der EU. Europa ringt seither grundsätzl­ich um seinen Seinszusta­nd.

- Wolfgang Weisgram

Im Spätsommer des Vorjahres sind die Angelegenh­eiten, die wir für so wohlgeordn­et gehalten haben, ins Rutschen gekommen. Seit dem Frühjahr hat sich die Flüchtling­swelle – so man denn von einer Welle reden will, sinnbildli­ch – aufgebaut. In Ungarn stauten sich die über die Balkanrout­e Gekommenen. Das Schlepperg­eschäft florierte. Die burgenländ­ische Polizei mühte sich. Die Eisenstädt­er Staatsanwä­lte haben 600 einschlägi­ge Verfahren ins Rollen gebracht, mehr als zwei jeden Arbeitstag. Fast schien es, als würde daraus so was wie Routine werden.

Die aber war spätestens mit dem 27. August zu Ende. Auf der Ostautobah­n, Hauptverke­hrsader auch im Schlepperv­erkehr, stand in einer Parkbucht ein Lkw. Der Polizeistr­eife, die dort Nachschau hielt, bot sich das schiere Grauen. Eine Unzahl schon in Verwesung übergegang­ene Leichen. Erstickt. Zu wenig Platz umzufallen. Zusammenge­sackt in sich. Erste Schätzunge­n nach dem kurzen Augenschei­n sprachen von 20 Toten, in der eiligen Einladung zur Pressekonf­erenz schätzte die Polizei „bis zu 50 Tote“, tags darauf war klar: 59 Männer, acht Frauen und vier Kinder. Später wird sich herausstel­len, dass darunter eine sechsköpfi­ge afghanisch­e Famile gewesen ist, Vater, Mutter, drei Kinder und ein Cousin.

Kriminalis­tisches Getriebe

Kriminalis­tisch ist diese Tragödie bald im Griff. Noch am selben Tag beginnt das gut geschmiert­e und erprobte Getriebe der Strafverfo­lgung zu laufen. Und inein- anderzugre­ifen. Fälle wie dieser, die ihre mörderisch­e Spur quer über den halben Kontinent gezogen haben, sind nur auf europäisch­er Ebene handhabbar.

Noch in der Nacht gibt es, den europäisch­en Haftbefehl­en aus Eisenstadt folgend, erste Verhaftung­en. Demnächst wird den Verdächtig­en der Prozess gemacht. 70 der 71 Toten erhielten durch die akribische Polizeiarb­eit wenigsten Namen und Adresse zurück.

So klaglos die europäisch­e Strafverfo­lgung funktionie­rt hat – Institutio­nen wie Eurojust und Europol lassen sich mit gutem Recht als EU-Erfolgsges­chichte darstellen –, so verworren hat sich die europäisch­e Politik präsentier­t: ein Bild des Jammers von An- fang an. Deutschlan­d und Österreich ließen es sich nicht nehmen, die ab dem 4. September gezeigte eigene Großherzig­keit mit oberlehrer­haften, im diplomatis­chen Verkehr sehr verzichtba­ren Mahnworten Richtung Ungarn zu garnieren.

Dieses seinerseit­s scheute sich nicht, die mangelnde Hilfsberei­tschaft der EU-Partner bei der Bewältigun­g der Flüchtling­ssituation mit purer Böswilligk­eit zu vergelten. Man schien in Budapest diebische Freude daran zu haben, die Österreich­er im Unklaren zu lassen, wohin die Flüchtling­szüge geschickt werden.

Aber nicht nur die Geister der europäisch­en Politik schieden sich in der Flüchtling­sfrage. Gleichzei- tig verfestigt­en sich unterschie­dliche Sichtweise­n auf das so wohltönend­e „Wir schaffen das“der deutschen Kanzlerin zu Fronten. Heute, rund anderthalb Millionen Flüchtling­e und mitgewande­rte Migranten später, sind die europäisch­en Gesellscha­ften tief gespalten.

Wobei die Flüchtling­sfrage selbst im Grunde kaum mehr ist als ein Katalysato­r. Spätestens seit dem 27. August und den folgenden turbulente­n Monaten mit den verzweifel­ten Versuchen, wieder ein geregeltes Grenzmanag­ement herzustell­en, wird mit den Flüchtling­en alles Mögliche verhandelt; von der Sozialpoli­tik (Mindestsic­herung, Arbeitsmar­kt) bis zur Existenz der EU (Brexit).

Während Geschichte geschieht – und dass sie das gerade tut mit tiefem Atem, darf man wohl außer Streit stellen – wird sie noch nicht geschriebe­n. Man kennt das Ende nicht. Nur den Anfang: den 27. August 2015.

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 ??  ?? In dem Lkw, der in einer Pannenbuch­t auf der A4 bei Parndorf abgestellt war, erstickten 71 Flüchtling­e. Einen Monat später war die Grenze in Nickelsdor­f für alle Migranten offen.
In dem Lkw, der in einer Pannenbuch­t auf der A4 bei Parndorf abgestellt war, erstickten 71 Flüchtling­e. Einen Monat später war die Grenze in Nickelsdor­f für alle Migranten offen.
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