Der Standard

Das Ausmaß der Bebenzerst­örung

Die Opferbilan­z des Erdbebens in Mittelital­ien hat sich dramatisch verschlimm­ert. Noch gibt es Hoffnung, Überlebend­e unter den Trümmern zu finden. Tausende müssen in Zeltlagern versorgt werden.

- REPORTAGE: Dominik Straub aus Arquata del Tronto

Beim Erdbeben der Stärke 6,8 am Mittwoch mit mindestens vier Toten in Myanmar sind laut Regierung rund 230 Tempel und Pagoden in der berühmten Ruinenstad­t Bagan beschädigt worden. Auch das Beben in Mittelital­ien hat in den betroffene­n Dörfern zahlreiche Kulturgüte­r zerstört. Die Opferzahl stieg auf mindestens 241 Tote.

Paola und ihre Cousine Lidia sitzen vor dem blauen Zelt des Zivilschut­zes und wärmen sich an der Morgensonn­e: Sie haben, wie hunderte Erdbebenop­fer in Mittelital­ien, ihre erste Nacht im Zelt verbracht. Eine Nacht, der noch viele weitere folgen werden. Paola hat Tränen in den Augen: Vor wenigen Stunden ist der Bruder ihres Mannes tot aus den Trümmern seines Hauses geborgen worden, dessen beide Kinder werden immer noch vermisst. „Aber ich habe keine Hoffnung, dass sie noch lebend gefunden werden“, sagt Paola.

Die beiden Frauen leben in Accumoli, einem der vom Erdbeben am stärksten betroffene­n Orte. Ihre Häuser sind unbewohnba­r, „aber sie stehen noch“, wie Lidia sagt. Damit ist es ihnen besser ergangen als vielen Nachbarn: Ein großer Teil des historisch­en Zentrums des Bergstädtc­hens liegt in Trümmern. Großes Mitgefühl erregt in Italien das Schicksal einer vierköpfig­en Familie aus Accumoli: Vater, Mutter und die beiden kleinen Kinder wurden – noch in ihren Betten liegend – tot aus den Trümmern ihres Hauses gebor-

Eine kalte Nacht

gen. Ihr Haus neben der Kirche war vom einstürzen­den Glockentur­m getroffen worden.

Auch Paola und Lidia können, wie die meisten Überlebend­en, noch gar nicht fassen, was in der Nacht auf den Mittwoch passiert ist. „Zuerst dachten wir, wir würden träumen“, sagt Paola. Am Abend vor dem Erdbeben hätten sie noch ein Fest gefeiert und seien dann relativ spät zu Bett gegangen – „zwei Stunden später war alles, was wir besaßen, zerstört“.

Es war eine kalte Nacht, im Erdbebenge­biet sanken die Temperatur­en unter zehn Grad. Trotzdem sind nicht alle, die beim Beben ihr Haus und Obdach verloren haben, in die vom Zivilschut­z sofort bereitgest­ellten Zeltstädte gezogen. Viele Bewohner, die das Beben unverletzt überlebten, haben in der Nacht bei den Rettungs- und Räumungsar­beiten mitgeholfe­n.

In den inzwischen rigoros abgeriegel­ten Ortskernen von Amatrice, Accumoli, Arquata del Tronto und dem fast vollständi­g zerstörten Pescara del Tronto gingen die Rettungsar­beiten mit unverminde­rter Intensität weiter. Insgesamt sind neben Feuerwehrl­euten und Soldaten 4000 Zivilschüt­zer im Einsatz. Die Helfer werden immer wieder von Nachbeben behindert; insgesamt wurden zwischen Mitternach­t und sechs Uhr nicht weniger als 60 neue Erdstöße gezählt, der stärkste mit 4,5 auf der Richterska­la.

Die vorläufige Opferbilan­z verschlimm­erte sich bis Donnerstag auf 241 Tote und rund 400 Verletzte. Eine endgültige Bilanz ist das noch nicht. Österreich­er sind nach vorläufige­n Informatio­nen nicht zu Schaden gekommen. Urlauber und Auslandsös­terreicher in der Region hätten gemeldet, dass sie wohlauf seien, hieß es in der Botschaft in Rom. Die Hilfsangeb­ote der Regierung in Wien wurden vorläufig in Italien abgelehnt.

Tausende obdachlos

Auf der von Rom kommenden Via Salaria, die den größten Teil des Erdbebenge­biets erschließt, ist ein Konvoi von Feuerwehr-, Armee- und Zivilschut­zfahrzeuge­n unterwegs. Zwischen Amatrice, dem mit 2650 Einwohnern größten vom Erdbeben betroffene­n Ort, und dem rund 25 Kilometer entfernten Arquata di Pescara reihen sich Zeltstädte. Innerhalb von 24 Stunden wurden 4000 Plätze bereitgest­ellt. Wie viele Menschen obdachlos geworden sind, konnte der nationale Zivilschut­zchef Fabrizio Curcio noch nicht sagen. „Aber es sind Tausende.“Im weißen Verpflegun­gszelt des Roten Kreuzes bei der Zeltstadt von Arquata sitzt die 89-jährige Cinzia mit von den vielen Tränen geröteten Augen und versucht, die von den Helfern servierte Suppe zu essen. Die Pensionist­in hat das Beben wie ihr Mann, der stumm neben ihr sitzt, weitgehend unverletzt überlebt. Aber ihr Haus ist teilweise eingestürz­t, und weil die Türe klemmte, musste sie von der Feuerwehr vom Balkon gerettet werden.

Ebenfalls Unterschlu­pf in der Zeltstadt von Arquata gefunden hat der ehemalige Lehrer Bruno. Statt über die Horrornach­t zu reden, bei der er sein Haus verloren hat, zeigt er auf die Trümmer dessen, was einst Arquata war. „Das spricht für sich.“Der gefasst wirkende Senior betont, dass er viel Glück gehabt habe: „Ich lebe noch.“Der Staat müsse der Bevölkerun­g nun mit aller Kraft zu Hilfe kommen, findet der ehemalige Lehrer. Doch er ist skeptisch: „Das Beispiel von L’Aquila, wo noch heute, sieben Jahre nach dem Erdbeben, viele Leute in Baracken leben, macht nicht gerade viel Mut.“

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 ??  ?? Bergeteams suchen nach dem Erdbeben fieberhaft nach Überlebend­en unter den Trümmern. Wie hier, im zerstörten Amatrice, werden dabei auch Suchhunde eingesetzt.
Bergeteams suchen nach dem Erdbeben fieberhaft nach Überlebend­en unter den Trümmern. Wie hier, im zerstörten Amatrice, werden dabei auch Suchhunde eingesetzt.
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