Der Standard

Estland sucht einen neuen Staatspräs­identen

Wahl im Parlament – Skepsis gegenüber Volksentsc­heid auch wegen befürchtet­er Einflussna­hme aus Moskau

- Andreas Stangl

Tallinn/Wien – Am Montag steht in Estland die Wahl des nächsten Staatspräs­identen an. Ingesamt stehen vier Kandidaten zur Auswahl: Zwei kommen aus Mitterecht­s-Parteien, eine von den Linkspopul­isten und ein weiterer von den Rechtsnati­onalisten.

Als Favorit wird Siim Kallas gehandelt. Der Expremier, frühere EU-Kommission­svize und Verkehrsko­mmissar geht für die wirtschaft­sliberale Reformpart­ei ins Rennen. Den Platz leicht rechts der Mitte macht ihm Parlaments­präsident Eiki Nestor von den Sozialdemo­kraten streitig, die in Estland keine linke Partei sind. Das ist dafür die Zentrumspa­rtei, für die Ex-Bildungsmi­nisterin Mailis Reps antritt – die erste Frau, die sich um das höchste Amt im Staat bewirbt. Allar Jõks ist Kandidat der Rechten und Nationalis­ten.

Dass schon am Montag ein neues Staatsober­haupt feststeht, ist vorerst alles andere als sicher. Denn Estland leistet sich eines der weltweit komplexest­en Wahlsystem­e für das höchste Staatsamt: Zunächst versuchen die 101 Abgeordnet­en im „Riigikogu“, dem Parlament, in insgesamt bis zu drei Versuchen einen Kandidaten oder eine Kandidatin zu wählen. Für die Wahl ist jeweils eine Zweidritte­lmehrheit (68 Abgeordnet­e) erforderli­ch, wobei im dritten Wahlgang nur noch zwei Kandidaten gegeneinan­der antreten.

Vorwurf der Intranspar­enz

Wenn auch das nicht klappt, muss ein Wahlkolleg­ium einberufen werden, dem neben den Parlaments­abgeordnet­en auch eine erst zu ermittelnd­e Anzahl von Kommunalve­rtretern angehört. Bei dieser Wahl können wieder neue Kandidaten oder Kandidatin­nen nominiert werden. Der amtierende Staatspräs­ident Toomas Hendrik Ilves, der nach seiner zweiten Amtszeit vorerst nicht mehr antreten darf, wurde vor zehn Jahren von einem solchen Kollegium ins Amt gewählt, seine Wiederwahl im August 2011 gelang hingegen schon im Parlament.

Zuletzt gingen Meinungsfo­rscher auf Basis von Umfragen unter den Abgeordnet­en davon aus, dass nur Kallas und Nestor eine theoretisc­he Chance auf eine schnelle Wahl im Parlament haben. Die rechtslibe­ralen Regierungs­parteien haben zusammen aber nur 45 Abgeordnet­e, sie brauchen mindestens 23 weitere Stimmen. Als relativ sicher gilt, dass etwa 15 Abgeordnet­e der Zentrumspa­rtei bereit wären, die eigene Kandidatin fallen zu lassen.

Da die Wahl geheim ist, sind Absprachen mit potenziell­en Abweichler­n Tür und Tor geöffnet. Die bisherigen Erfahrunge­n haben gezeigt, dass es mit der Parteidisz­iplin in Estland nicht allzu weit her ist. Das Wahlsystem wird wegen seiner Intranspar­enz immer wieder von verschiede­nen Seiten heftig kritisiert. Der Gründungsp­räsident des neuen Estland, Lennart Meri, schlug schon 1993 vor, den Präsidente­n künftig vom Volk wählen zu lassen.

So richtig dem Volk überlassen will man die Entscheidu­ng für die Besetzung des symbolisch wichtigen Amts jedoch offenbar nicht. Zu sehr befürchtet man in Tallinn seit jeher die Einflussna­hme durch Moskau, das sich seit dem Zerfall der Sowjetunio­n im Jahr 1991 als Schutzmach­t der rund 25 Prozent starken russischen Sprachmind­erheit in Estland sieht.

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Foto: Reuters / Vincent Kessler Toomas Hendrik Ilves nimmt Abschied vom Präsidente­namt.

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