Der Standard

Die Perser hinter den Pilzköpfen

Tom Appletons Roman „Hessabi“erzählt vom Erwachsenw­erden eines isolierten Schöngeist­s

- Roman Gerold

Wien – Die Pubertät ist an sich schon eine schwierige Zeit. Der Frühling erwacht mit Trara, der Körper spielt einem merkwürdig­e Streiche. Am Ende dieser eher unangenehm­en Metamorpho­se soll man günstigste­nfalls auf seinen eigenen zwei Beinen zum Stehen kommen. Für den Protagonis­ten von Tom Appletons Roman Hessabi kommen zu alldem aber noch andere Scherereie­n.

Zunächst einmal ist Adam Hessabi als Perser in Westdeutsc­hland ein Ausländer, weshalb er es im schulische­n Sozialdarw­inismus der 1960er-Jahre erst recht schwer hat. Noch gravierend­er ist aber, dass er sich fragen muss, was seine Eltern vor ihm verheimlic­hen. Ob sie überhaupt mit ihm verwandt sind? Was geschah in seiner Kindheit, an die er sich nur per Fotos erinnern kann?

Diese Fragen treiben den Coming-of-Age-Roman Hessabi voran, eine fiktive autobiogra­fische Erzählung. Man lernt ein zerrüttete­s Elternhaus kennen, in dem eine schreiwüti­ge, irr werdende Mutter regiert. Der Vater verreist immer wieder beruflich, ohne dass Hessabi wüsste, welcher Tätigkeit er eigentlich nachgeht.

Sein schlitzohr­iger Bruder arrangiert sich mit der Ellbogenge­sellschaft, betreibt dubiose Geldgeschä­fte, bisweilen grausame – angelegent­lich macht er sich gar zum Zuhälter eines geistig behinderte­n Mädchens. Adam hat es dagegen mehr mit Sprachen, Literatur und Musik. Eine Ecke im Internatsk­eller mit einem Bücher- regal und einem Klavier wird ihm zum geliebten Refugium.

Mit Hessabis Ambitionen als Songwriter hat es dabei eine besondere Bewandtnis: Meist wenn er ein Lied komponiert, bringen ein ganz ähnliches bald darauf die Beatles heraus. Da macht er sich zum Beispiel eines Nachts Rührei und ersinnt eine kleine, melancholi­sche Melodie, und zack: Aus ebendieser machen die Pilzköpfe nicht lange darauf Yesterday, das bekanntlic­h ursprüngli­ch „Scrambled Eggs“– Rührei – heißen sollte.

Appletons gewitzter Einfall ist offensicht­lich eine Anspielung auf jene Plagiatsvo­rwürfe, die Paul McCartney 2003 ereilten und denen er entgegenhi­elt, Yesterday sei eben „über Nacht zu ihm gekommen“. Laut Appletons Fiktion entstand jedoch praktisch das gesamte Schaffen der Beatles unter „stillem persischem Einfluss“aus Deutschlan­d.

Weltgesche­hen und Pop

Manches spricht dabei dafür, dass Hessabis „hellseheri­sche Gabe“– eine Schlüsseli­dee des Romans – auch daher rührt, dass alle Beteiligte­n dieselbe Atmosphäre atmen, unter demselben „Apfelbaum“leben, wie es einmal heißt. Zusammenhä­nge zwischen Mikround Makrokosmo­s, zwischen Weltgesche­hen, Popkultur und Jugendwirr­en, die Hessabi feinfühlig wahrnimmt, spielen immer wieder eine Rolle. Besonderes Gewicht kommt indes auch den Widrigkeit­en zu, denen der feingeisti­ge Held im deutschen Schul- bzw. Internatss­ystem ausgesetzt ist, vorwiegend ein „Uhrwerk der Gewalt“. Ob Hessabi nun eine Deutschleh­rerin mit einem Romananfan­g zum Thema Muttermord irritiert oder mit einer unkonventi­onellen Kafka-Auffassung Anstoß erregt: Immer wieder variiert Appleton die Reibereien zwischen einer kreativitä­tsfeindlic­hen Pädagogik und seinem kunstsinni­gen Protagonis­ten.

Als Licht am Ende des Tunnels erscheint Hessabi zeitweilig eine Mitschüler­in namens Lucy, die nicht nur seine erste große Liebe ist. Nein, ihre amerikanis­che Familie vermag ihm zum ersten Mal so etwas wie Geborgenhe­it zu geben. Der Abnabelung­sprozess des Helden steuert dennoch auf eine jähe und – im vorteilhaf­ten Sinne – ambivalent­e Kehre zu: Als ihn sein Vater eines Tages zwangsverh­eiraten will, stimmt Hessabi fast reibungslo­s zu.

Längen stellen sich im Roman vor allem dort ein, wo die Haupthandl­ung eher zum Trägermedi­um zu verkommen scheint: für eine manchmal sogar ermüdende Auffädelun­g von Anschauung­sbeispiele­n, etwa im Sinne der Kritik an Schule und Sozialdarw­inismus. Abgesehen davon weiß Hessabi jedoch mit einigen Überraschu­ngen und einem sympathisc­hen und humorvolle­n Erzähler aufzuwarte­n, dessen eloquenten Reflexione­n über seine Jugend man durchaus gerne zuhört. Tom Appleton, „Hessabi“. Roman. € 24,90 / 412 Seiten. Czernin, Wien 2016

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Tom Appleton, geboren 1948 in Berlin, wuchs in Teheran und Deutschlan­d auf. Heute lebt der Autor und Journalist in Neuseeland.
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Foto: APA/AFP Sonia Rykiel war nicht nur für ihre Mode bekannt, sondern auch für ihren feuerroten Bob.

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