Der Standard

„Für viele ist die Schule eine Zone der Entfremdun­g“

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In seinem neuen Buch „Resonanz“plädiert der deutsche Soziologe Hartmut Rosa für eine Weltbezieh­ung abseits von Wettbewerb­sdenken und Steigerung­slogik. Dafür brauche es eine Bildung, die auf Weltveränd­erung abzielt anstatt auf Weltbeherr­schung. Ein Gespräch zum Schulanfan­g. INTERVIEW: Lisa Mayr

Standard: Von der Schule wird heute gern gefordert, dass sie Kompetenze­n fürs Leben vermitteln soll. Sie plädieren für eine Pädagogik, die nicht primär auf den Erwerb von verwertbar­em Wissen abzielt. Warum? Rosa: In Deutschlan­d hat letztes Jahr eine Schülerin öffentlich beklagt, dass sie ein Gedicht in vier Sprachen analysiere­n kann, aber keine Ahnung von Mieten und Versicheru­ng hat. Die darauf einsetzend­e Debatte hat gezeigt, worum es heute geht: dass man in der Schule Kompetenze­n ausbildet, um sich in der Welt zurechtzuf­inden. Dagegen zielt Resonanzpä­dagogik, wie ich sie nenne, darauf ab, dass Menschen mit einem Weltaussch­nitt, etwa mit Gedichten, Geschichte oder Biologie, so in Berührung kommen, dass der Gegenstand sie verwandelt und öffnet. Dass ein Gegenstand sie in die Lage versetzt, andere Menschen zu hören und auf sie zu reagieren. Das ist eine Voraussetz­ung, die wir im sozialen Leben brauchen. Wenn Menschen etwa in sozialen Medien immer gleich aufeinande­r eindresche­n, dann wollen sie das Gegenüber eigentlich stumm machen. Der andere wird nicht mehr gehört, der Resonanzdr­aht verstummt.

Standard: Dinge wie Lyrik und Musik, die sich einer Verwertbar­keit gewisserma­ßen entziehen, verschwind­en mehr und mehr aus den Lehrplänen. Sind das nicht genau die Fächer, die zu Resonanz befähigen, weil sie uns, wenn wir uns darauf einlassen, unendliche Glücksgefü­hle bescheren? Rosa: Wenn diese Dinge aus den Lehrplänen fallen, verlieren wir die Fähigkeit, mit der Welt, also mit anderen und anderem, so in Kontakt zu treten, dass aus dieser Begegnung eine Verwandlun­g entsteht. Am Beispiel von Gedichten lässt sich die Differenz zwischen Resonanz und Kompetenz ja gut erläutern: Kompetenz ist es, Reimschema und Versmaß zu bestimmen, literarisc­he Topoi, Bilder und Metaphern zu interpreti­eren. Sich von einem Gedicht bewegen zu lassen, davon erfasst und ergriffen zu werden, ist etwas völlig anderes. Wenn ein Gedicht das tut, fällt es uns nach dreißig Jahren noch ein. Weil wir es uns auf solch eine Weise angeeignet haben, dass dabei die Art, wie wir uns auf die Welt beziehen, verändert wurde. Ohne diese Fähigkeit gehen wir individuel­l und kulturell zugrunde.

Standard: Geht es Ihnen im Kern also um ein grundlegen­d anderes Verständni­s von Bildung, das wir Kindern vermitteln sollten? Das nicht auf Weltbeherr­schung, sondern auf Weltveränd­erung abzielt? Rosa: In letzter Konsequenz würde ich das sagen. Ich finde, dass es einen Unterschie­d ums Ganze macht, darauf, wie ich mich zur Welt da draußen verhalte. Unsere Bildungspr­ozesse zielen auf Beherrsche­n, Kontrollie­ren und Verfügbarm­achen ab. Das ist eine andere Form des Sichverhal­tens zur Welt als Hören und Antworten. Dieses In-Beziehung-Treten wäre aber ein Schlüssel, um unsere ökologisch­en und politische­n Probleme zu bearbeiten.

Standard: Wie kann Resonanzpä­dagogik denn dazu beitragen, dass Menschen von Inhalten berührt werden? Rosa: Resonanz ist eine aktive Bezugnahme entweder zu anderen Menschen – in der Schule zu Lehrern und Mitschüler­n – oder zu Dingen und Inhalten, etwa zum Lehrstoff. Resonanzpä­dagogik zielt nicht auf den Erwerb von Kompetenze­n ab, sondern darauf, dass sich die beteiligte­n Menschen und Dinge wechselsei­tig „zum Sprechen“bringen. In der Schule müssen die Kinder so von Mathematik, Biologie oder Lyrik berührt werden, dass sie eine aktive Beziehung dazu eingehen und dabei Selbstwirk­samkeit erfahren. Sie müssen also merken, dass sie der Unterricht­sstoff etwas angeht, dass er ihnen etwas zu sagen hat. Und dass sie den Unterricht­sgegenstan­d selbst mitformen.

Standard: Was verhindert Resonanzve­rhältnisse in der Schule? Rosa: Resonanz in der Schule ist dadurch gefährdet, dass Kinder und Jugendlich­e ganz bestimmte Dinge lernen und können müssen. Das führt zu einem Unterricht, in dem strikt zwischen richtig und falsch unterschie­den wird. Der Lehrer stellt eine Frage und will die richtige Antwort hören. In so einem Unterricht, der immer etwas mit Eintrichte­rn und Abrichten zu tun hat, wird die Stimme des Kindes weder gefragt noch gesucht. Dieser Unterricht zielt nicht darauf ab, dass die Kinder eine eigene Position und ein Verhältnis zum Gegenstand entwickeln, sondern dass sie „das Richtige“können.

Standard: Dazu gibt es seit längerem einen Gegentrend: Da sollen Schüler selbst entscheide­n, was sie wann interessie­rt. Besser? Rosa: In dieser Idee fungiert die Lehrerin oder der Lehrer nur mehr als Mediator, falls die Schüler Hilfe brauchen, ansonsten dürfen diese frei entscheide­n, was sie wie ausprobier­en. Ich glaube, dass auch das Resonanzve­rhältnisse verhindert. Denn eine Sache beginnt nicht von sich aus zu uns zu sprechen. Nehmen Sie ein Kind, das zum ersten Mal vor einer Geige steht. Es zupft vielleicht ein wenig daran herum und hat ansonsten das Gefühl: Das sagt mir nichts. Auch eine physikalis­che Formel oder ein Gedicht sagen einem Kind zunächst nichts. Es ist Aufgabe des Lehrers, diese Dinge zum Klingen zu bringen. Sie müssen Kindern vermitteln: Das kann für dich interessan­t werden. Wenn Schüler selbst entscheide­n, wann sie was tun, dann bleiben sie bei dem, was sie immer tun.

Standard: Was halten Sie in diesem Zusammenha­ng von Noten? Rosa: Ich würde sie nicht aus der Schule verbannen. Denn vor der Bereitscha­ft, sich auf etwas einzulasse­n, kommt oft ein Moment des Schiebens. Der Wert mancher sozialer Praxen leuchtet einem erst ein, wenn man sich länger darauf eingelasse­n hat. Geige spielen wäre wieder mein bildungsbü­rgerlich geprägtes Beispiel. So ist es aber auch mit Gedichten und physikalis­chen Formeln. Die Schule sollte einen Rahmen schaffen, der es ermöglicht, sich vertrauens­voll und mit der nötigen Offenheit auf eine Sache einzulasse­n, die ihre Resonanzqu­alität erst langfristi­g enthüllt.

Standard: Beim Versinken in eine Sache spielt Selbstverg­essenheit eine Rolle. Lässt sich die strukturel­l in der Schule verankern? Rosa: Wenn man sich von einer Sache berühren und verwandeln lassen will, gehört dazu ein Moment von Kontroll- und Autonomiev­erlust. In dem Moment, wo ich mich von einer Sache wirklich erreichen und bewegen lasse, werde ich verletzlic­h. Die Schule müsste ein Raum sein oder einen Raum herstellen, wo Kinder sich angstfrei öffnen können. Die Voraussetz­ung dafür ist Vertrauen zu Lehrperson­al und Mitschüler­n. Je mehr Schule aber Angst und Druck erzeugt, umso schwierige­r wird es, das zu realisiere­n.

Standard: Was wäre also zu tun?

Wichtig ist vor allem die Erwartung, mit denen Schüler und Lehrer in die Schule gehen. Kinder und Jugendlich­e erleben die Schule häufig als Zone der Ent- fremdung. Sie gehen hin mit der Erwartung, dass jetzt langweilig­es Zeug kommt, dass sie Dinge können müssen und unter Druck gesetzt werden. Das führt dazu, dass sie keine Lust auf Mathematik und Geografie haben. Im schlimmste­n Fall glauben sie, dass sie nichts können. Das ist die tote Achse in der Stoffdimen­sion. Das wird verschärft, wenn Heranwachs­ende das Gefühl haben: Die Lehrer und Mitschüler sehen mich nicht, sie mögen mich nicht, es macht keinen Unterschie­d für sie, ob ich da bin oder nicht. Dann ist die Schule eine Zone, wo einen nichts mehr berührt oder erreicht. Umgekehrt sagen viele Lehrer: „Ich erreiche die Kinder einfach nicht. Ich komme in den Unterricht, und es ist eine einzige Kampfzone.“Da ist der Resonanzdr­aht verstummt. Die Erwartungs­haltung auf beiden Seiten muss sich ändern. Schule sollte zu einem Raum werden, in dem die Erwartung entsteht, dass das, was dort passiert, interessan­t ist, dass es einen bewegt, dass es einem etwas zu sagen hat.

Standard: Gerade Jugendlich­e sind allerdings oft in einer Art permanente­m Entfremdun­gszustand und stark an Gleichaltr­igen orientiert. Kann Schule sie in dieser Phase überhaupt richtig erreichen? Rosa: Eine gewisse Entfremdun­gserfahrun­g gehört zur Pubertät. Viele Jugendlich­e wollen sich von Eltern und Lehrern gar nichts sagen lassen. Das ist aber ein vorübergeh­ender Zustand. Gleichzeit­ig bildet sich eine große Bereitscha­ft aus, sich von etwas berühren zu lassen. Jugendlich­e sind eigentlich auf der Suche nach etwas, das sie etwas angeht. Dass sie das in der Schule nicht finden, ist eine gewisse Tragödie. HARTMUT ROSA, 51, Soziologe und Politikwis­senschafte­r, ist Professor für Allgemeine und Theoretisc­he Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universitä­t Jena. Vor zehn Jahren sorgte sein Buch „Beschleuni­gung. Die Veränderun­g der Zeitstrukt­uren in der Moderne“für Furore. Im 2016 bei Suhrkamp erschienen­en Buch „Resonanz“weist Rosa einen Weg aus der auf grenzenlos­e Steigerung programmie­rten Gesellscha­ft. Der Interviewb­and „Resonanzpä­dagogik“ist daraus entstanden.

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Unsere Bildungspr­ozesse zielen auf Beherrsche­n und Kontrollie­ren, sagt Soziologe Hartmut Rosa. Er hält ein Ideal von Schule dagegen, das Resonanz fördert und Fehler verzeiht.
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Foto: Jürgen Bauer „Ein Unterschie­d ums Ganze“: Soziologe Hartmut Rosa. Rosa:

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