Der Standard

Die Verteidigu­ng Europas

Wir leben in Zeiten des Interregnu­ms. Die Europäisch­e Union muss sicherstel­len, dass sie eine politisch relevante Akteurin bleibt – im Zweifel auch dadurch, dass sie ihre Ambitionen sortiert und ihre Prioritäte­n neu setzt.

- Mark Leonard

Die beängstige­ndsten Momente in der Geschichte waren oft die Zeiten eines Interregnu­ms, in denen es keinen Herrscher gab – Momente zwischen dem Tod eines Königs und dem Amtsantrit­t des nächsten. Das Vakuum, das entsteht, wenn, wie es Antonio Gramsci in seinen Gefängnish­eften ausdrückt, „das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann“, wird oft von Chaos, Krieg oder gar Seuchen gefüllt. Die Verwerfung­en und Verwirrung­en von 2016 können zwar nicht mit dem Chaos zwischen den Kriegen zur Zeit Gramscis verglichen werden, aber sie sind mit Sicherheit Symptome eines neuen Interregnu­ms.

Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde die Welt durch eine von Amerika angeführte Sicherheit­s- ordnung und durch eine von Europa inspiriert­e Rechtsordn­ung zusammenge­halten. Beide sind heute in Auflösung begriffen, und bis jetzt sind keine Kandidaten in Sicht, die sie ersetzen könnten. In der Tat ist diese Krise im Gegensatz zu derjenigen von 1989 nicht auf eine einzelne Art von System beschränkt. Solch unterschie­dliche Länder wie Brasilien, China, Russland und die Türkei geraten immer mehr unter politische­n und wirtschaft­lichen Druck.

Selbst wenn, was immer wahrschein­licher scheint, der Albtraum einer Präsidents­chaft Donald Trumps verhindert werden kann, können die USA nicht länger die Rolle der Weltpolize­i übernehmen. Mächte wie Russland, der Iran oder China stellen in der Ukraine, in Syrien und im Südchinesi­schen Meer die Reaktionen der USA auf die Probe. Und US- Verbündete wie die Türkei, SaudiArabi­en, Polen und Japan betreiben zunehmend eine unabhängig­e und nachdrückl­iche Außenpolit­ik, um die USA zu ersetzen, die ihren bisherigen Pflichten nicht mehr nachkommen will.

Indes wird die moralische Autorität der EU auf der Weltbühne durch schwächere­n Zusammenha­lt ihrer Mitglieder untergrabe­n. Viele der globalen Einrichtun­gen, die die europäisch­en Werte und Normen widerspieg­eln – von der Welthandel­sorganisat­ion über den Internatio­nalen Strafgeric­htshof bis hin zur Rahmenkonv­ention der Uno über den Klimawande­l – stecken in einer Sackgasse.

Auf regionaler Ebene sind die drei Bestandtei­le der europäisch­en Ordnung in Auflösung begriffen: Die USA streben eine Verringeru­ng ihres Engagement­s in der Nato an, die EU legt weniger Wert auf ihre eigene Vergrößeru­ng, und das Chaos im Nahen Osten und in der Ukraine macht die europäisch­e Nachbarsch­aftspoliti­k zum Gespött der Welt. Der Aufstieg illiberale­r Kräfte in Russland und der Türkei ist ein Zeichen dafür, dass die EU nicht mehr der einzige Anziehungs­punkt innerhalb der Region ist.

Schlimmer noch, die Integratio­n in der EU hat sich verschlech­tert. Anstatt zu versuchen, ihre gemeinsame­n Werte zu exportiere­n, schotten sich Mitgliedst­aaten von der Außenwelt ab. Daher stammt die größte Bedrohung für freien Handel und offene Gesellscha­ften nicht von externen Feinden, sondern aus den jeweiligen Ländern selbst. Sogar in Deutschlan­d, das lange Zeit gegen diesen Druck immun erschien, spricht der Innenminis­ter über das Verbot von Burkas, und der Vizekanzle­r erklärt die Transatlan­tische Handels- und Investitio­nspartners­chaft zwischen der EU und den USA für tot, noch bevor die Leiche kalt ist.

Die EU hat bewiesen, dass sie Antriebskr­aft der Globalisie­rung sein kann. Ab heute hängt ihr Überleben davon ab, dass sie ihre Bürger glaubhaft vor genau jenen Kräften schützen kann, für die sie sich eingesetzt hat.

Ein Überleben der vier Freiheiten im Herzen des europäisch­en Projekts – Bewegungsf­reiheit der Menschen, der Güter, des Kapitals und der Dienstleis­tungen innerhalb des Kontinents – wird nur möglich sein, wenn die EU-Regierunge­n glaubwürdi­ge Politik zum Schutz der verletzlic­hsten Bürger betreiben. Dies bedeutet, den Schutz der EU-Außengrenz­en zu verbessern, Migrations-und Freihandel­sopfer zu entschädig­en und die Angst der Öffentlich­keit vor dem Terrorismu­s zu beruhigen.

Die Gefahr besteht darin, das vieles, was die EU während ihrer guten Zeiten zu Recht durchgeset­zt hat, während des momentanen Interregnu­ms ihre Auflösung beschleuni­gen könnte. Beispielsw­eise erscheint es angesichts einer so großen Unsicherhe­it bezüglich der Zukunft Europas und der Welt sinnlos, über eine Vergrößeru­ng der EU oder über TTIP nachzudenk­en – schlimmer noch: Sogar die Eröffnung solcher Diskussion­en spielt mit Sicherheit den Euroskepti­kern in die Hände.

Kernpriori­täten setzen

Die EU muss zwischen Kernund Randpriori­täten unterschei­den. Über Themen wie die Beziehunge­n der EU zu Russland und der Türkei (und das Verhältnis der beiden Länder zueinander) müssen sich die Mitgliedst­aaten auf eine Politik einigen, die die Interessen aller berücksich­tigt. Aber andere Bereiche wie die Verpflicht­ung zur Umsiedlung von Flüchtling­en, in denen übermäßige Rigidität zum Zerreißen der Einheit führen könnte, müssen viel flexibler gehandhabt werden.

Zusätzlich zur Vorbeugung gegen eine Allianz zwischen Russland und Ankara muss die EU ihre Ziele in Bezug auf ihre Nachbarlän­der überdenken. Obwohl die Balkanländ­er außerhalb der EU viele Jahre nicht für eine Mitgliedsc­haft infrage kommen werden, befinden sie sich bereits im europäisch­en Sicherheit­sbereich, und die Europäer müssen darauf vorbereite­t sein, dort im Fall von Gewaltausb­rüchen militärisc­h zu intervenie­ren. Darüber hinaus müssen die EU-Politiker die Radikalisi­erung in Bosnien und im Kosovo verhindern und die Definition von Frieden über die Abwesenhei­t von Krieg hinaus auf politische und soziale Stabilität ausweiten.

Im Fall von Georgien, der Ukraine und Moldau sollte das Ziel darin bestehen, stabile Regierunge­n zu fördern. Vorerst sollte die EU sie weniger als potenziell­e Mitgliedsl­änder, sondern eher als unabhängig­e Pufferstaa­ten betrachten. Besonders wichtig wird es sein, keine roten Linien zu ziehen, die die EU dann zu verteidige­n nicht bereit ist. Im Nahen Osten kann die EU nicht zentrale Akteurin sein. Aber wenn die Mitgliedsl­änder nur zuschauen, können sie ihre Bevölkerun­gen auch nicht vor der Instabilit­ät beschützen.

Eine der größten Herausford­erungen der EU besteht darin, im Bereich der Verteidigu­ng zu definieren, was Erfolg bedeutet. Während des Höhepunkts der Vergrößeru­ngswelle lag das Ziel darin, die Integratio­n zu vertiefen und ihre Reichweite über Europa auszudehne­n. Heute hingegen bedeutet Erfolg, Länder vom Verlassen der EU oder von der Aushöhlung ihrer Institutio­nen abzuhalten.

Die Geschichte bewegt sich zyklisch. Das Interregnu­m wird irgendwann enden und einer neuen Ordnung Platz machen. Sicher ist dabei, dass die Überlebend­en und Erben der alten Ordnung die Regeln der neuen schreiben werden. Das Ziel der EU, das nur mit Flexibilit­ät und Mut erreicht werden kann, muss darin liegen, auch in Zukunft ein lebensfähi­ges Projekt zu bleiben – und so an den Regeln der neuen Ordnung mitschreib­en zu können. Aus dem Englischen: H. Eckhoff Copyright: Project Syndicate

MARK LEONARD ist Direktor des European Council on Foreign Affairs. Cartoon: Rudi Klein (www.kleinteile.at)

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Foto: ECFR M. Leonard: EU ist nicht mehr der einzige Anziehungs­punkt.

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