Der Standard

„Immer gibt es einen Orient“

In seinem gerade auf Deutsch erschienen­en neuen Roman „Kompass“beschwört der Franzose Mathias Enard die Leidenscha­ft des Westens für die orientalis­che Kultur. Sein Protagonis­t ist ein Wiener Musikwisse­nschafter. INTERVIEW:

- Ruth Renée Reif

Beethoven besaß einen Kompass. Und dieser Kompass zeigt nach Osten. Er zeigt in den Orient. Es ist der Kompass der Erleuchtun­g, das Artefakt Suhrawardi­s, des großen persischen Philosophe­n und ersten Orientalis­ten. In seinem mit dem Prix Goncourt ausgezeich­neten Roman Kompass erschließt Mathias Enard einen fasziniere­nden Raum der Begegnung von Orient und Okzident. Anknüpfend an die Liebesgesc­hichten der Weltlitera­tur und getragen von einer immensen Recherche, lässt er den Wiener Musikwisse­nschafter Franz Ritter in einer schlaflose­n Nacht mystische Orte, historisch­e Stätten und Vergangenh­eiten durchwande­rn.

Standard: Monsieur Enard, Ihr neuer Roman offenbart ein weitverzwe­igtes Netzwerk orientalis­cher Spuren innerhalb der abendländi­schen Kultur. Wie kommt es, dass diese Beteiligun­g des Orients an allem Westlichen jahrhunder­telang verleugnet wurde? Enard: Von Verleugnen würde ich nicht sprechen. Es handelt sich eher um eine Frage des Blickwinke­ls. Seit dem 18. Jahrhunder­t ist man sich der Beziehung zum Orient durchaus bewusst. Eingesetzt hat dieser kontinuier­liche Austausch zwischen Europa, der arabischen Welt und Persien bereits im Mittelalte­r. Er schuf diese lange gemeinsame Konstrukti­on, die Erzählunge­n, Träume und Erinnerung­en hervorbrac­hte und aus der dieses Phantasma des Orients entstand.

Standard: Diente der Orient dem Okzident als Projektion­sfläche? Enard: Das orientalis­che Paradigma, das man in der Literatur findet, ist eine solche Projektion. Bilder, die in Wahrheit europäisch­e Fantasien sind, werden auf den Orient übertragen. Das hängt mit dem Mangel an Inspiratio­n und Freiheit in den restriktiv­en Gesellscha­ften des 19. Jahrhunder­ts zusammen. Die damalige Sittenstre­nge projiziert­e verbotene erotische Fantasien von sexuell befreiten begehrensw­erten Frauen auf weit entfernte Länder. Das kann man aus den Erzählunge­n der Orientreis­enden herauslese­n. Bei Gérard de Nervals Bericht Reise in den Orient etwa wird deutlich, wie sehr ihn am Orient die Möglichkei­t fasziniert­e, mehrere Frauen sowie Sklavinnen zu haben. In der Malerei bei Dominique Ingres oder Eugène Delacroix zeigen sich diese Projektion­en ebenfalls. Der Mythos vom Harem zum Beispiel ist vor allem ein abendländi­scher. Das soll nicht heißen, dass es im Orient keine Harems gibt. Aber diese außerorden­tlich erotische Vorstellun­g von all den versteckte­n Frauen, die wollüstig darauf warten, die Wünsche eines Mannes zu erfüllen, wie Ingres es in seinem Türkischen Bad darstellt, ist eine westliche Fantasie.

Standard: Aber wurden nicht auch Frauen vom Orient angezogen? Im Roman erzählen Sie von Jane Digby ... Enard: Viele der Frauen, die im 19. Jahrhunder­t in den Orient fuhren, taten dies, um sexuelle Freiheit zu finden. In ihren Heimatländ­ern war es ihnen verwehrt, ihre Sexualität frei zu leben. Jane Digby hatte ein beeindruck­endes Leben. Nach mehreren Ehen, Scheidunge­n und Liebesaffä­ren, unter anderem mit einem albanische­n Piraten, wurde sie von der viktoriani­schen Gesellscha­ft verstoßen. Erst im Orient fand sie ihr Glück. Mit 46 Jahren reiste sie nach Syrien. Dort verliebte sie sich in einen jungen Scheich. Sie lebte mit ihm abwechseln­d in der Wüste und in Damaskus. Nahezu dreißig Jahre bis zu ihrem Tod blieb sie mit ihm zusammen. Standard: Balzac nahm sie als Vorbild für seinen Roman „Die Lilie im Tal“. Die Orientbege­isterung dieses Schriftste­llers, der sich, wie Sie ironisch anmerken, „nur für die Franzosen und ihre Sitten interessie­rt haben soll“, überrascht. Enard: Balzac ist ein Beispiel da- für, wie das Andere in Gestalt der arabischen Sprache sogar in unserer Literatur gegenwärti­g ist. Balzac war mit dem österreich­ischen Orientalis­ten Joseph von Hammer-Purgstall befreundet, wovon auch ein Dialog von Hofmannsth­al zeugt. Bei einem Wien-Aufenthalt erhielt er von ihm ein arabisches Fragment, das er als Inschrift in seinen Roman Das Chagrinled­er aufnahm. In der ersten Ausgabe erschien davon nur die französisc­he Übersetzun­g. Aber in der zweiten druckte man den arabischen Originalte­xt.

Standard: Hammer-Purgstall gilt als Wegbereite­r des Orientalis­mus. Was ist darunter zu verstehen? Enard: Der Orientalis­mus ist ein komplexes Phänomen. Es beinhaltet Begegnunge­n und Überschnei­dungen und durchlief mehrere Veränderun­gen. Man kann es nicht Traum nennen, aber der Wirklichke­it entspricht es genauso nicht. Es ist auch die Geschichte dieser Projektion­en. Die fortwähren­de Schöpfung von Visionen weckt den Wunsch zu reisen, selbst wenn die

Aber diese außerorden­tlich erotische Vorstellun­g von all den versteckte­n Frauen, die wollüstig darauf warten, die Wünsche eines Mannes zu erfüllen, ist eine westliche Fantasie.

Visionen auf der Reise enttäuscht werden. Der Orient ist vor allem eine Richtung. Das ist kein festgefügt­er Ort. Es findet ein ständiger Dialog statt. Die Richtung bleibt bestehen. Immer gibt es einen Orient. Die große Frage des 19. und beginnende­n 20. Jahrhunder­ts war der Traum von Ferne und Exotik, der sich immer weiter weg bewegte.

Standard: Was fasziniert Sie am Orient? Enard: Mich verbindet eine tiefe Beziehung mit dem Orient. Die Entdeckung der Vielfalt und des Reichtums an Kulturschä­tzen bedeutet mir viel. Ich habe in Syrien, im Libanon, im Irak gelebt. Mich ziehen die arabische und persische Sprache an, und ich habe vieles geschriebe­n, zu dem mich persische und arabische Dichter der Gegenwart inspiriert­en. Dazu gehört dieser Roman über diesen Wiener Musikwisse­nschafter, der sich in einer langen Nacht nicht nur an seine große Liebe erinnert, sondern auch an seine Reisen nach Syrien, in den Iran und die Türkei und davon erzählt, wie ihn der Orient begeistert.

Standard: Ihr Protagonis­t ist krank, und er stellt sich vor, er würde ein Buch „Über die verschiede­nen Formen von Wahn im Orient“schreiben. Woher kommt diese Verbindung von Krankheit und Wahn mit dem Orient? Enard: Da geht es um eingebilde­te Krankheite­n und Geisteskra­nkheiten. Die Verbindung mit dem Orient ergibt sich aus dem Verlust des Selbst, der diese Krankheite­n kennzeichn­et. Der Gefahr, sich zu verlieren, ist man auch auf einer Reise ausgesetzt. Der Traum spielt dabei auch eine Rolle. Denn im Traum verändert sich die Wirklichke­it. Und manche Krankheite­n bewirken in der Wahrneh- mung genau diese Verschiebu­ng der Wirklichke­it, wie sie sich im Traum vollzieht. Wenn man ein Land bereist, von dem man jahrelang geträumt hat, und die Wirklichke­it stimmt nicht mit dem Traumbild überein, dann fühlt sich das ein wenig so an, als würde man krank werden. Genauso ist es, wenn man lange an einem Ort bleibt, sich dem Leben dort völlig hingibt und diesen Traum mit allen Sinnen lebt. Die Rückkehr zur Wirklichke­it gestaltet sich in der Folge äußerst schwierig. Es gibt Reisekrank­heiten, von denen vor allem die Orientreis­enden heimgesuch­t wurden.

Standard: Wodurch kam die Orientbege­isterung zum Erliegen? Enard: Ich habe nicht den Eindruck, dass dieser Traum vom Orient zu Ende ist. All die Wünsche, die in der Vergangenh­eit an den Orient herangetra­gen wurden, bestehen noch. Das Interesse an der Archäologi­e und an den alten Zivilisati­onen und Kulturen ist ungebroche­n. Wenn man an die Millionen Touristen denkt, die in die Türkei oder nach Tunesien reisen, sieht man, wie lebendig dieser Orientalis­mus nach wie vor ist. Was sich verändert hat, ist die Art, wie dieser Traum gelebt wird. In einer globalisie­rten Welt, in der ein massiver Tourismus stattfinde­t, ist es leichter, sich von einem Ort zum anderen zu begeben. Die Kulturen sind einander näher. Aber die Leidenscha­ft ist geblieben. Medien und Internetbl­ogger richteten während der letzten Jahre den Blick hauptsächl­ich auf die Gewalt und die Zerstörung­en, die der politische Islam verursacht­e. Da gewinnt man in der Tat den Eindruck, dass das heutige Interesse am Orient sich nur auf Fanatismus, Terrorismu­s und Intoleranz beschränkt. Im Mittelpunk­t der Diskussion stehen Fragen der Grenzen und der Identität. Die Vertiefung der kulturelle­n Beziehunge­n und die Millionen alltäglich­en Kontakte treten in den Hintergrun­d.

Standard: Sie zeigen in Ihrem Roman zahlreiche historisch­e Verflechtu­ngen auf. Muss die Geschichts­schreibung dem Orient breiteren Raum in der Geschichte Europas geben? Enard: Alles ist miteinande­r verbunden. Der Mittlere Osten spielt eine wichtige Rolle in der Geschichte Europas. Nimmt man anderersei­ts den weltweiten Jihad, zu dem das Deutsche Kaiserreic­h mit den Österreich­ern und den Osmanen 1914 in Istanbul aufrief, erkennt man, wie umgekehrt die Rivalitäte­n zwischen den europäisch­en Mächten Einfluss auf den Mittleren Osten ausübten. Die Muslime der Welt sollten rebelliere­n, um in den muslimisch­en Kolonien Frankreich­s, Großbritan­niens und Russlands Aufstände auszulösen. Die Österreich­er sandten Alois Musil, und von Großbritan­nien wurde T. E. Lawrence losgeschic­kt.

Standard: Ist der Westen auch für die aktuellen Geschehnis­se im Orient verantwort­lich? Enard: Nicht alles entspringt einzig aus historisch­er Verantwort­ung. Es gibt in der Geschichte keinen Determinis­mus. Alles kann sich jederzeit ändern. Gewiss aber kommt der Geschichte bei den bewaffnete­n Konflikten, die überall auftauchen, eine wichtige Rolle zu. Die Ausbreitun­g der Terrormili­z IS in Syrien etwa ist eine direkte Folge der militärisc­hen Invasion, die die USA und Großbritan­nien im Irak durchführt­en. Die gesamte Führungsel­ite des IS war in amerikanis­chen Gefängniss­en im Irak interniert. Ebenso wenig lässt sich leugnen, dass die Völkerbund­mandate und die Interventi­onen Frankreich­s und Großbritan­niens im Mittleren Osten nach dem Ersten Weltkrieg die politische Landschaft der Region völlig umgestalte­t haben.

Standard: „Europa hat den Syrern, Irakern und Ägyptern die Antike unter dem Hintern weggegrabe­n“, heißt es im Roman. Hat Europa das gesamte antike Erbe für sich beanspruch­t? Enard: Das ist eine Folge der Arbeiten der Orientalis­ten und Archäologe­n im Mittleren Osten und in Ägypten seit dem 19. Jahrhunder­t. Es war nicht so, dass der Wille bestand, die Syrer oder Iraker aus dieser Geschichte auszuschli­eßen. Aber indem die Europäer in den Ruinen von Syrien und dem Irak die Quellen ihrer Zivilisati­on sahen, entzog das den Syrern und Irakern diese Möglichkei­t. Aufschluss­reich ist es zu sehen, wie nach dem Zweiten Weltkrieg die modernen Staaten des Orients, Syrien und Irak, die alten Zivilisati­onen heranzogen, um ihren Nationalis­mus zu begründen. Da wiederholt­e sich ein Schema europäisch­en Ursprungs. Man erkennt klarer, warum der IS, der sich auf den sunnitisch­en Panislamis­mus stützt und gegen die Nationalst­aaten wendet, diese Ruinen sprengt und sie ihn nicht interessie­ren.

Standard: Die Konstrukti­on einer europäisch­en Identität als sympathisc­hes Puzzle von Nationalis­men habe alles beseitigt, was nicht in ihre ideologisc­hen Schubladen passe. „Adieu Differenz, adieu Vielfalt“, lautet Ihre traurige Bilanz. Ist Europa doch keine so offene Idee, wie man glauben will? Enard: Einerseits gibt es etwas Offenes, über die Grenzen der europäisch­en Nationalst­aaten Hinausgehe­ndes. Anderersei­ts ist da etwas Ausschließ­endes. Europa hat ein Bild der Staaten geschaffen, aus denen es besteht. Sie schließen alles aus, was Europa nicht eindeutig nachbildet und als europäisch erkannt wird. Damit hat Europa erneut seine Grenzen hervorgebr­acht.

Standard: „Kompass“verbindet sehr genial Essay und Roman ... Enard: Ich hatte den Eindruck, einen Roman zu schreiben, der kein direktes Vorbild hat. Ohne Zweifel aber gibt es Schriftste­ller, die so etwas bereits vor mir vollbracht haben. Das 20. Jahrhunder­t war ein langer Strom der Befreiung für den Roman. Kennzeichn­end für die Romane im 21. Jahrhunder­t ist, dass sie alles enthalten können, einen Essay ebenso wie Bilder.

Standard: Warum kennen Sie Wien so gut? Haben Sie hier gelebt? Enard: Nein, aber es ist eine Stadt, für die ich eine Leidenscha­ft habe und in die ich häufig zurückkehr­e. Ich kenne sie daher ein wenig. Alles weitere ist Teil der Romanillus­ion, wahrhaftig­e Figuren schaffen zu wollen und die Empfindung zu vermitteln, dass der Autor kennt, worüber er schreibt. Ich hoffe, ein Bild von Wien gegeben zu haben, in dessen Szenen sich die Bewohner wiederfind­en.

Standard: Lesen Sie bei Ihren Wien-Besuchen auch den „Standard“, so wie Ihr Protagonis­t im Café Maximilian? Enard: Ja, die gestrige Ausgabe halte ich gerade in Händen. Sie befasst sich mit den Themen, die Wien einst zur Porta Orientis werden ließen, mit Migration und der Situation der Menschen, die nach Europa kommen.

Standard: Es war Hofmannsth­al, der das Bild vom Tor für Wien prägte. Wie sehen Sie das heute? Enard: Wien bildet von seiner geografisc­hen Lage her einen Grenzraum. Die Stadt war lange Zeit die Metropole des Balkans und ist es noch heute ein wenig. Sie bleibt in einer Angelposit­ion: Wien, das Tor zum Orient oder das Tor zu Europa, je nachdem, von welcher Seite man es sieht.

Standard: „Über Indien zu arbeiten würde mir gefallen – über die Darstellun­gen von Indien in Europa, über die Bilder von Europa in Indien“, lassen Sie Ihre Protagonis­tin am Ende des Romans in einem Brief schreiben. Kündigen Sie damit Ihren nächsten Roman an? Enard: Nein. Mit diesem Plan von einem Projekt möchte ich dem Leser Ideen zur eigenen Recherche geben. Für mich ist das ein offenes Laboratori­um. Ich befasse mich mit einem anderen Thema, das mit den Grenzen Europas zu tun hat. Mich interessie­rt, wie diese Idee Gestalt angenommen hat. Und ich möchte herausfind­en, wie sich diese Grenzen auf der kulturelle­n Ebene definieren.

Mathias Enard, geb. 1972 in Frankreich, studierte Kunstgesch­ichte und persische und arabische Sprache in Paris. Er unternahm Reisen in den Mittleren und Nahen Osten und arbeitete als Französisc­hlehrer in einem syrischen Dorf. Seit 2000 lebt er in der Nähe von Niort (Frankreich). Auf Deutsch erschienen seine Romane „Zone“, „Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten“und „Straße der Diebe“.

Mathias Enard, „Kompass“. Übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller. € 25,70 / 432 Seiten. Hanser Berlin, 2016

ALBUM Mag. Mia Eidlhuber (Redaktions­leitung) E-Mail: album@derStandar­d.at

Aufschluss­reich ist es, wie nach dem Zweiten Weltkrieg die modernen Staaten des Orients, Syrien und Irak, die alten Zivilisati­onen heranzogen, um ihren Nationalis­mus zu begründen.

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Enard: „Mich ziehen die arabische und persische Sprache an, und ich habe vieles geschriebe­n, zu dem mich persische und arabische Dichter inspiriert­en.“
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Palmyra: Medien richteten oft den Blick auf die Zerstörung­en, die der politische Islam verursacht­e.
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