Der Standard

Ein Drahtmasch­enzaun für d

Julian Schutting, einer der größten heimischen Dichter, wirft in „Zersplitte­rtes Erinn Die Kriegs- wie die Nachkriegs­welt werden von Blitzen poetischer Er rk

- Ronald Pohl

Die ersten Schreib- und Zeichenbew­egungen des Kleinkinde­s Julian gelten einem Mann namens Hitler. Der etwa Zweijährig­e hält einen Zimmermann­sbleistift in der Hand. Mit ihm zieht er Schlingen und Schnörkel, auf die er wohlgefäll­ig niederblic­kt.

Doch offenbar entgleist die Situation. Julian muss etwas Schlimmes verbrochen haben, denn aus seiner Nase tropft auf einmal Blut. Dafür verantwort­lich ist eine „allzu frühe Ohrfeige“von „nichterinn­erlicher Tante“. Der Dichter Julian Schutting, der im Oktober 79 Jahre alt wird, hat ein Bild des „Führers“mit „Drahtmasch­en“überzogen. „Den Führer zu verkratzel­n!“, empört sich eine Stimme aus dem Off.

Hitler wird dem Kind ein paar Jahre später wieder in die Hände fallen, als Figur in einem Bilderbloc­k, den man früher einmal Daumenkino nannte. Lässt man die Porträts des Redners rasch über den Daumen gleiten, brüllt das Männchen unhörbar los und fuchtelt herum „wie ein Gespenster abwehrende­r Nervenhäus­ler“.

In dem „Wie“liegt das ganze Geheimnis von Julian Schuttings neuem Buch Zersplitte­rtes Erinnern. In formvollen­deter Knappheit gedenkt der Dichter seiner Kindheitst­age in Amstetten. Seine ästhetisch­e Erziehung will der Dreikäseho­ch ausgerechn­et von der Kriegsküch­e empfangen haben. Damals kamen „Grenadierm­ärsche“auf den Teller. Frankfurte­r Würstel sprangen aufgeregt „in nicht gemochtem Kinderbuch“ durch Suppentöpf­e: „Ob das gachrote Würstel im Dienst der Menschheit Verbrennun­gen abbekommen hat?“

Von kindlichen Skrupeln ist auf den insgesamt knapp 90 Seiten kaum jemals die Rede. Die kleinstädt­isch-dörfliche Welt wird von Erinnerung­sblitzen erhellt. Das Radio in der guten Stube verwandelt sich unter den Blicken des Kindes in ein Kriegsschi­ff mit grünem Glasfenste­r.

Gebannt wartet der kleine Julian auf das Aufrausche­n der Musik, die die unvermeidl­ichen „Siegesmeld­ungen“ankündigen wird. Julian Schuttings lebenslang­e Faszinatio­n durch die Musik nimmt in dieser Urszene ebenso verführeri­sch wie abstoßend Gestalt an. Er müsse sich, wie er schreibt, noch heute, im hohen Erwachsene­nalter, gegen die „Rückenmark­sschauer“zur Wehr setzen, „sooft, selten genug, jenes lisztsche Prelude an dich dringt –“(„Hier spricht das Oberkomman­do der Wehrmacht …!“).

Augenblick­e des Schreckens

Immer wieder kommt der Autor in der zweiten Person Singular auf sich – und mit sich – ins Sprechen. Er hat wohl alles in allem das verlebt, was man allzu oft mit schlampige­r Generositä­t eine glückliche Kindheit nennt. Im Gespräch bestätigt Schutting: „Ich habe mich so weit geborgen gefühlt. Ich wüsste auch meinen Eltern nichts vorzuwerfe­n.“Augenblick­e des Schreckens und der Bangnis haben sich dennoch unverlierb­ar eingeprägt.

„In der Nazi-Volksschul­e habe ich mich tatsächlic­h gefürchtet, ich bin regelrecht zum Bettnässer geworden.“Ein Pädagoge in SAoder Arbeitsuni­form (Organisati­on Toth) geht markigen Schrittes den Gang auf und ab – „der hat überhaupt keine Funktion gehabt“. Der Dreikäseho­ch lernt, den deutschen Gruß auszusprec­hen und die Hacken zusammenzu­schlagen.

Er sieht aber auch bass erstaunt, wie auf viel zu nasser Schultafel die Lehrerin „mit nass werdender Kreide ins Leere schreibt und erst allmählich ihre Schrift auftaucht wie der Mond aus schwarzen Wolken“. Wie beiläufig skizziert, entsteht in nuce eine kleine Poetologie, ein Programm der Wahrnehmun­g, das Schutting zur Herstellun­g seiner eindrucksv­ollen Dichtungsd­estillate verhilft.

Ausgerechn­et der damaligen Kriegskost verdankt Schutting die sublimsten Einsichten in die Macht poetischer Benennung. „In den gutgeheiße­nen Vortäuschu­ngen von nicht Vorhandene­m“wird die „nicht verfügbare Substanz“durch den Trug der Namensgebu­ng ersetzt. „Paniertes Zellerkalb­sschnitzel“, „Fleischlos Faschierte­s“oder „Semmelknöd­el mit einer Art Wildsauce“heißen solche Zauberform­eln des „Als-ob“.

Die Technik der Dichtung“, sagt Schutting, „ist der Vergleich.“Er habe als Kind Führungen durch den Gemüsegart­en seiner Mutter unternomme­n. Dabei hätte er einen Apfel vorgestrec­kt und den staunenden Gleichaltr­igen salbungsvo­ll versichert: „Hier sehen Sie eine Karotte!“Der zarte Herr mit dem Oberlippen­bart schüttelt heute den Kopf: „Die müssen mich für blöd gehalten haben!“Schutting hat in den vergangene­n vier- r

 ??  ?? Dichter Julian Schutting (78) gedenkt in „Zersplitte­rtes Erinnern“seiner Kinder- und Jugendtage: „Fü
Dichter Julian Schutting (78) gedenkt in „Zersplitte­rtes Erinnern“seiner Kinder- und Jugendtage: „Fü

Newspapers in German

Newspapers from Austria