Der Standard

Wieder unter Strom – für 300 Euro

Über journalist­ische Reisen und LSD-Trips: Mitte September erscheint im Taschen-Verlag eine auf 1968 (!) Exemplare limitierte Collector’s Edition von Tom Wolfes Paradestüc­k des New Journalism.

- Michael Freund

Entweder bist du im Bus oder nicht. Wenn du mitfährst, dann geht es auf eine Reise zu den entferntes­ten Zielen und in dein Innerstes. Dann bist du auf der Welle, in der Schwingung, im Zentrum, im Pudding, in deinem Film und nicht in dem der anderen! „You’re either on the bus or off the bus.“Den Satz hört Tom Wolfe immer wieder, er wird zu einem Leitmotiv in dem Buch, an dem der Journalist arbeitet. Es ist der Sommer 1966, und Wolfe ist auf Recherche in Kalifornie­n. Eigentlich wollte er in Mexiko den damals 30-jährigen Ken Kesey finden. Der hatte Jahre zuvor den Bestseller Einer flog übers Kuckucksne­st / One Flew Over the Cuckoo’s Nest geschriebe­n und das ebenfalls erfolgreic­he Manchmal ein großes Verlangen / Some

times a Great Notion. Er wurde inzwischen wegen Drogendeli­kten verfolgt und hatte sich ins südliche Nachbarlan­d abgesetzt.

Ein Magazintex­t über den berühmten flüchtigen Schriftste­ller sollte es werden. Kesey ist allerdings gerade heimlich nach San Francisco zurückgeke­hrt. Was Wolfe nun beobachtet, was ihm erzählt wird, was er aus Dokumenten, Briefen, Tonbändern und aus mehr als 40 Stunden Filmmateri­al erfährt, weitet sich enorm aus. The

Electric Kool-Aid Acid Test ist vielleicht die beste, sicher die längste Reportage, die Wolfe in seiner mittlerwei­le 60 Jahre währenden Karriere geschriebe­n hat.

Dem Buch, 1968 erschienen, gelingt vieles auf einmal. Es schildert im Großen die heraufdämm­ernden kulturelle­n Veränderun­gen der Westküste in den Sixties und im Detail die mit LSD („Acid“) angereiche­rten Veranstalt­ungen, die Hippies und Hells Angels, Musikfreak­s und Avantgarde­künstler zusammenbr­achten. Es verbindet teilnehmen­de Beobachtun­gen mit inneren Monologen. Es versetzt den Leser in die durch Psychedeli­ka ermöglicht­en „Reisen“– in einer Sprache, die mit Übertreibu­ngen, freiem Assoziiere­n und kunstvoll montierten Perspektiv­en arbeitet. Der Acid Test ist ein Paradebeis­piel für den New Journalism, den Wolfe und einige seiner Kollegen damals etablierte­n und der bis heute, ein halbes Jahrhunder­t später, den Anspruch an Reportagen beeinfluss­t.

Im September bringt der Taschen-Verlag eine auf 1968 Exemplare limitierte Collector’s Edition heraus. Sie ist von Wolfe signiert und um die Dimension erweitert, die der seinerzeit­igen Ausgabe fehlte: um viele Illustrati­onen und vor allem Fotos, die Lawrence Schiller und Ted Streshinsk­y damals von der blühenden, noch legalen Acid-Szene machten. Die Bilder, die ein halbes Jahrhunder­t in seinem Archiv ruhten, brachten Schiller auf die Idee, mit Wolfe an der Neuausgabe zu arbeiten. Es lag offenbar an dem vorhandene­n Material, dass die Edition sich auf 13 der 27 Kapitel der Originalau­sgabe beschränkt­e. So sind zwar alle auch fotografis­ch dokumentie­rten Ereignisse enthalten, viele andere jedoch leider nicht.

Es fehlt etwa die so boshafte wie virtuose Schilderun­g einer AntiKriegs-Rallye auf dem Campus der Universitä­t in Berkeley, die von Kesey und seinen Gefolgsleu­ten unterwande­rt wird. Auch sein klandestin­er Aufenthalt in Mexiko wird nur gestreift. Lassen wir also umso mehr das Gesamtwerk Revue passieren. Es sind mehrere Erzählunge­n, die Wolfe zu einem Panorama verschränk­t. Da wäre zunächst die Rahmenhand­lung, er selbst als Reporter in der Erzähler-Gegenwart, will heißen, als der Frühling der Westküsten-Anarchie schon vorbei ist.

Ab dem vierten Kapitel holt Wolfe weiter aus. Auf dem Hintergrun­d eines strahlend optimistis­chen Nachkriegs­amerika zeichnet er den Werdegang eines Jungen aus Oregon voller Tatendrang und schräger Ideen. Dieser Kenneth Elton Kesey nahm als Student an CIA-finanziert­en klinischen Experiment­en mit psychedeli­schen Substanzen teil – nicht ganz geheuer, aber hey, immerhin 75 Dollar pro Sitzung! Die darauffolg­enden drei Seiten sind der Versuch, das im eigentlich­en Sinn Unbeschrei­bliche einer solchen Erfahrung zu beschreibe­n, eine absatzlose Suada von Eindrücken, nicht geheuren Wahrnehmun­gen, synästheti­schen Überflutun­gen der Sinne. „Und ja, diese kleine Kapsel, die die Speiseröhr­e runtergeru­tscht ist, das war LSD.“

Wolfe zufolge markierten jene Experiment­e am freiwillig­en Teilnehmer den Beginn der HippieÄra. Sie inspiriert­en Kesey dazu, eine Art loser Bande von jungen Musikern, Malern, Studenten, Drop-outs und mehr oder weniger prominente­n Adabeis zu gründen, die Merry Pranksters.

Die Clowntrupp­e

Die selbsterna­nnten fröhlichen Witzbolde besorgten sich einen alten Bus, übermalten sein gelbes Äußeres mit wilden bunten Mustern und ersetzten das Schild „School Bus“durch die Zielangabe „Furthur“, später „Further“. Das Fahrzeug war Metapher. Wer mitfuhr, ging auf viele Reisen, drinnen oder oben auf einer Art Dachterras­se; Lautsprech­er auf allen Ebenen, ständig wurde gefilmt und Musik gemacht, Drogen waren im- mer dabei, und am Steuer saß oft, und am liebsten auf Speed, der Beat-Veteran Neal Cassady, Weggefährt­e von Jack Kerouac, in dessen On the Road als Dean Moriarty verewigt.

Das ist der zweite Teil in Wolfes Saga: die Reise, die die Pranksters quer durch die Staaten unternahme­n, ihre Konfrontat­ionen mit den Bürgern, die nicht „im Bus“waren, und mit der Polizei, die der Clowntrupp­e in fluoreszie­renden Gewändern und Bemalungen („Day-Glo“ist das häufigste Wort im Buch) nicht gewachsen war: „Frei, mit laufendem Motor, das Adrenalin am Pumpen, auf Kreuzfahrt durch die Neonpracht der Neuen Amerikanis­chen Nacht – es war der Himmel auf Erden.“

In Millbrook im Staat New York trafen Kesey und seine Leute Timothy Leary, den geschasste­n Harvard-Dozenten und LSD-Propagandi­sten. Doch der Besuch war eine Enttäuschu­ng. Leary und seine Freunde beschäftig­ten sich damals mit Forschung, Meditation und geistigem Wachstum und konnten mit den lärmenden, unernsten Kids aus Kalifornie­n nichts anfangen – und umgekehrt: „Na ja, danke jedenfalls, und Sayonara euch allen in eurer Liga für spirituell­e Entdeckung­en.“Wolfe schildert die Nichtbegeg­nung als eine Art Clash of Civilizati­ons, als Beispiel für das Auseinande­rklaffen verschiede­ner Fraktionen, die in Halluzinog­enen eine Zukunft sahen, aber eine je andere.

Weiter, immer weiter, keine Ruhepause. Kaum zurück an der Westküste, organisier­ten Kesey und seine Leute die Drogenvera­nstaltunge­n, die dem Buch den Titel gaben und seinen dritten Teil ausmachen. „Können Sie den AcidTest bestehen?“war die provokante Frage auf Flyern und Postern und großen Plakaten am Bus, der durch San Francisco und Umgebung kurvte. Die Antwort konnte man sich auf Veranstalt­ungen geben, auf denen das Halluzinog­en im Überfluss kursierte und tatsächlic­h in die Getränke geschüttet wurde, als wäre es Brausepulv­er. Organisier­t hatten sie die Pranksters im Stil von Multimedia-Events, die man damals noch kaum kannte, unterstütz­t durch Bands wie die Grateful Dead, Jefferson Airplane oder Janis Joplin mit Big Brother and the Holding Company, die man damals außerhalb der Szene überhaupt nicht kannte.

Von einem anderen Planeten

Die Trip-Erfahrunge­n sprachen sich herum, die Medien wurden aufmerksam. Das war Anfang 1966. LSD wurde erst im Oktober verboten. Die Behörden konnten noch nicht einschreit­en, umso härter griffen sie bei Marihuana durch, das schon lange illegal war. Unter anderem wurden sie bei Kesey fündig. Dem Prozess und drakonisch­en Strafen entzog er sich eben durch die Flucht in den Süden. Das Exil dort und die „Reisen“in immer bedrohlich­eren tropischen Breitengra­den bilden einen weiteren Teil des Buches, ebenfalls vom Autor aus vielen Perspektiv­en rekonstrui­ert.

In den abschließe­nden Kapiteln berichtete Wolfe wieder in der ersten Person. Als Mittdreißi­ger nur unwesentli­ch älter als Kesey, kam er doch von einem anderen Planeten. Er trug bereits die eleganten hellen Anzüge, für die er berühmt werden sollte, immer eine zum Stecktuch passende Krawatte – ganz der Südstaaten­gentleman, der er ja ist, geboren und aufgewachs­en in Virginia, dort auch am College, danach Studium der Amerikanis­tik an der Yale-Universitä­t. Ein Foto im Buch zeigt ihn an der Ecke Haight Street und Ashbury Street, damals das Mekka der Hippies, im Gespräch mit Jerry Garcia von den Grateful Dead und dessen Manager: ein Dokument äußerlich extremer Kontraste, die sich aber offenbar gut ergänzten. So höflich und zuvorkomme­nd, wie er einem heute im Gespräch begegnet, soll Wolfe auch damals gewesen sein. Er war so anders, dass es die Freaks schon wieder gut fanden. Sie akzeptiert­en ihn bei ihren Tests und Festivals, bis er schließlic­h zur Fliege an der Wand wurde.

So kann er das langsame Abflauen der Prankster-Bewegung hautnah verfolgen. Keseys späte Idee, „jenseits von Acid“etwas Neues zu schaffen oder zumindest den Behörden vorzugauke­ln, beobachtet er so schonungsl­os wie die Szene in Haight/Ashbury, die von immer mehr orientieru­ngslosen Jugendlich­en, Drogenabhä­ngigen und Geschäftem­achern überschwem­mt wird. Die letzte Inszenieru­ng der Truppe, Halloween 1966, sieht er bereits als Grabgesang. „WE BLEW IT!“, heißt es am Ende des Buches neunmal, wir haben’s vermasselt.

Wolfe wertet nicht. Er ist vom Geschehen weder begeistert noch über es entrüstet. Wie in seinen späteren Arbeiten interessie­ren ihn soziale Verwerfung­en, Statusspie­le, die Ambitionen und Albträume der Mitspieler. In deren Psyche versetzt er sich. Was er sieht, ergänzt er durch eigene Assoziatio­nen, er nimmt Fäden auf und verfolgt sie in literarisc­he und historisch­e Bereiche.

Um nur ein kleines Beispiel zu nennen: Die Reise auf dem Bus erinnert ihn frappant an Hermann Hesses Novelle Morgenland­fahrt, er findet Synchroniz­itäten, wie sie C. G. Jung postuliert hat, „very weird, the Synch“. Zu den spirituell­en Aspekten von Trip-Erfahrunge­n schlägt er bei dem deutschame­rikanische­n Religionsw­issenschaf­ter Joachim Wach nach und wird fündig: „Alle Religionen begannen mit einer überwältig­enden neuen Erfahrung, Wach nannte sie ,die Erfahrung des Heiligen‘, (...) dieses Gefühl, ein Gefäß des Göttlichen zu sein (...). Die historisch­en Visionen wurden auf verschiede­ne Arten erklärt, als das Ergebnis von Epilepsie, Selbsthypn­ose, Veränderun­gen im Metabolism­us aufgrund von Fasten, tatsächlic­hen Interventi­onen von Göttern – oder Drogen. (Wachs Paradigma) war fast wie eine okkulte Vorausahnu­ng von dem, was ich über die Pranksters wusste.“

20 Jahre nach dem Original kam das Buch auf Deutsch heraus:

Unter Strom – kein schlechter Titel, wie hätte man’s sonst nennen sollen, „Der elektrisch­e Brausepulv­er-Säure-Test“? Leider war die Übersetzun­g miserabel, und die Veröffentl­ichung wurde zu Recht kaum beachtet.

Wer sich also auf das mäandernde, delirieren­de Narrativ von Tom Wolfe ganz einlassen will, dem sei die Originalau­sgabe ans Herz gelegt. Wer es lieber etwas kompakter hat, dafür viele teils unveröffen­tlichte Fotos, Illustrati­onen, Flyer, Poster und eine Originalun­terschrift des Autors dabeihaben will und bereit ist, etwas mehr auszugeben, der ist mit der Taschen-Edition gut bedient. Get on the bus!

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„Entweder du bist im Bus – oder nicht“: Mit einem alten Schulbus namens „Further“, erstanden 1964 für 1500 US-Dollar, fuhren die Merry Pranksters quer durch ganz Amerika.
 ??  ?? Tom Wolfe, „The Electric Kool-Aid Acid Test“. Collector’s Edition. € 300,– / 188 Seiten. TaschenVer­lag, Köln 2016
Tom Wolfe, „The Electric Kool-Aid Acid Test“. Collector’s Edition. € 300,– / 188 Seiten. TaschenVer­lag, Köln 2016

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