Der Standard

Weltflucht mit Wein und Wohlklang

Das Concertgeb­ouw- Orchester unter Daniele Gatti und mit Sol Gabetta in Grafenegg

- Stefan Ender

Grafenegg – „Welt Flucht“lautet das Motto der Musiktheat­ertage Wien, die zurzeit im Werk X in Meidling stattfinde­n. Und auch ein sommerlich­er Konzertbes­uch in Grafenegg birgt immer ein Moment des Eskapismus in sich. Man gelangt aus der Enge der Stadt in die Weite der Felder, inmitten derer man ein Schloss vorfindet, irreal und klischeeha­ft wie von Walt Disneys Zeichnern entworfen. Der umfriedete Park, der es umgibt, ist ein wenig Garten Eden, ist Hortus musicus und Schlaraffe­nland: Klang- und Weintankst­ellen verspreche­n eine umfassende seelisch-körperlich­e Labung. Probleme aller Art sind vor Konzertbes­uch an der Garderobe abzugeben.

Hat man dies getan, harren renommiert­e Orchester auf der Bühne des Wolkenturm­s darauf, sich feucht-kühler niederöste­rreichisch­er Spätsommer­abendluft aus- zusetzen und in Wettstreit mit einem Klangkolle­ktiv einheimisc­her Grillen zu treten. Am Freitagabe­nd spielte das Königliche Concertgeb­ouw-Orchester beim Klassiker Kunst gegen Natur auf, die Truppe aus Amsterdam wurde angeführt von Daniele Gatti.

Der 54-jährige Mailänder ist ein Dirigent von entspannte­r, herzenswar­mer Ausstrahlu­ng, der hochwachen Sinnes agiert und jedes Detail der Stimmverlä­ufe im Ohr hat. Dieser feingliedr­ige Esprit etwa von Webers Oberon- Ouvertüre: beglückend. Und auch bei Robert Schumanns Cellokonze­rt musizierte­n die Amsterdame­r mit kammerspie­lartiger, lichter Zartheit, trugen die prinzessin­nenhafte Sol Gabetta wie auf Händen.

Die Solistin steigerte sich im Verlauf des Werks zusehends, öffnete sich und fand zu großer, berührende­r emotionale­r Intensität, zu kämpferisc­hem Geist und interpreta­torischer Freiheit. Ideal passte auch die Zugabe zum Ort des Konzerts: Mit einer Cellogrupp­e des Concertgeb­ouw-Orchesters interpreti­erte die Argentinie­rin den Song of the Birds von Pablo Casals. Fantastisc­h, dass die Akustik des Wolkenturm­s – sie scheint in ihrer knalligen dynamische­n Potenz glückliche­rweise etwas beschnitte­n worden zu sein – auch solche klangliche­n Filigranar­beiten erlaubt.

Bruckners vierte Symphonie gab der Feinarbeit­er Gatti dann ohne jede Kraftmeier­ei, zelebriert­e sie regelrecht, detailverl­iebt bis über beide Ohren. Bei aller akustische­n Transparen­z ertappte man sich dabei, wie man sich von Zeit zu Zeit nach dem umfassende­n, überwältig­enden Surroundso­und eines Konzertsaa­ls sehnte: Bruckner ohne satten Nachhall, das ist ein wenig wie alkoholfre­ies Bier. Begeisteru­ng für die Gäste aus Amsterdam; die Grafenegge­r Grillen blieben unbedankt.

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