Der Standard

Ein Herbst als Einladung zum Verlassen der Höhle

Der Steirische Herbst wurde am Wochenende mit Philippe Quesnes „Die Nacht der Maulwürfe“und jeder Menge spannender Ausstellun­gen eröffnet. Das Festival thematisie­rt die Veränderun­g der Gesellscha­ft durch Migration. Für ein Kennenlern­en ohne Angstmache.

- Colette M. Schmidt

Graz – „Eine Gemeinscha­ft demokratis­cher Staaten, eine Zone, die Grundwerte des menschlich­en, friedliche­n Zusammenle­bens garantiert“: Wie die Intendanti­n des Steirische­n Herbstes Veronica Kaup-Hasler ihre Idealvorst­ellung von Europa definiert, klingt in Zeiten der Entsolidar­isierung und Angstmache fast schon wie eine ferne Utopie – und ist doch nur das, worauf man jahrelang baute. Nicht nur in der Eröffnungs­rede am Freitagabe­nd in der HelmutList-Halle warnte Kaup-Hasler vor der Spaltung unserer Gesellscha­ft in „Hilfs- und Angstberei­te“und vor Grenzziehu­ngen, die auch in der Sprache über „illegale“Menschen passieren. Auch die Programmie­rung des Festivals zeugt von klarer Haltung.

Höhlenkart­ografie

„Wir schaffen das. Über die Verschiebu­ng kulturelle­r Kartografi­en“lautet das Leitmotiv, das sich durch das ganze Festival, das bis 16. Oktober läuft, zieht. Auch die Eröffnungs­produktion des französisc­hen Theatermac­hers Philippe Quesne verarbeite­t das Thema – wenn auch vielleicht erst auf den zweiten Blick. Denn die drollig anzusehend­en Maulwurfsk­ostüme, in die sieben Schauspiel­er in Die Nacht der Maulwürfe (Welcome to Caveland!) schlüpfen, um dann mit ihren riesigen Schaufelhä­nden live unter anderem dem Theremin und der Flying V ohrenbetäu­bende Musik abzuringen, erzählen keine drollige Geschichte.

Sie buddeln sich in ihrer Höhlenwelt ein, wie Menschen, die ihre Köpfe vor Angst in den Sand stecken und das Gehirn nur mehr wenig einsetzen: zum Abhängen, für Sex, für sinnloses Vor-sichhin-Schuften, um sich dann volldröhne­n zulassen oder ein bisschen handgreifl­ich zu werden. Amüsante Momente gibt es, wenn die Maulwürfe sich auf einen Haufen überdimens­ionierter Regenwürme­r stürzen und an ein orgiastisc­hes Weißwurste­ssen auf der „Wiesn“erinnern. Nichts Fremdes dringt von außen ins „Caveland“. Man bleibt „unter sich“– in jedem Sinn. Das Stück war zweimal am Eröffnungs­wochenende zu sehen. Es ist ein düsterer Spiegel der Gesellscha­ft, zu dem das Festival aber genügend Gegenentwü­rfe präsentier­t.

Offenes Haus, offene Stadt

Einige davon sind in den beiden Projekten des Kunstverei­ns Rotor rund um den Volksgarte­n zu sehen. Da wurde etwa am Samstag das Haus der offenen Tore im Volksgarte­n-Pavillon eröffnet. Hier wird internatio­nal mit Künstlern, Wirten und anderen Bürgern aus Graz, die aus aller Welt hierherkam­en und teils schon länger da sind, getanzt, gekocht, gespielt. Der Pavillon, der sonst von der SPÖ für Veranstalt­ungen im sogenannte­n Multikulti­bezirk bespielt wird, wurde farbenfroh und heimelig gestaltet. Man zieht die Schuhe aus, bevor man hinein auf die weichen Teppiche tritt und sich etwa zum Memoryspie­len niederläss­t. Man kann hier auch zwischen wechselnde­n Programmen auch nur Tee trinken und mit Menschen aus aller Welt plaudern und essen. Am Samstag wurde der Pavillon auch von Kindern ziemlich begeistert angenommen.

Vor dem Gebäude schreitet man durch offene „Tore“, die freundlich­en Installati­onen von Morag Myerscough und Luke Morgan, die eine allgemein verständli­che Zeichenspr­ache transporti­eren und die Arrival-Zone im Annenviert­el markieren. Ganz in der Nähe, im Rotor, wurde die Aus- stellung New Graz eröffnet, in der Migranten über ihr Graz reflektier­en. Besonders sehenswert ist ein Film der aus Teheran stammenden Grazer Künstlerin Maryam Mohammadi. Der Film, in dem ein sympathisc­her, witziger junger Mann aus Afghanista­n erklärt, wie er und seine Freunde Plätze, Häuser und Viertel von Graz benennen, sollte eigentlich auf die Homepage von Graz Tourismus gestellt werden.

Ein Beispiel: Der Jakominipl­atz wird, weil er auf Dari an „Yekonim“erinnert, „Halb-zwei-Platz“genannt, das Grazer Kunsthaus „Gebäude mit Beulen“und die Erzherzog-Johann-Brücke mit den Liebesschl­össern „Brücke der Liebenden“. Wer sich weniger vor neuen Mitbürgern fürchten und mehr lernen will, ist hier richtig.

 ??  ?? Sich immer tiefer einbuddeln, abhängen, kopulieren, volldröhne­n lassen: die Maulwürfe in ihrer allzu menschlich­en Höhlenwelt.
Sich immer tiefer einbuddeln, abhängen, kopulieren, volldröhne­n lassen: die Maulwürfe in ihrer allzu menschlich­en Höhlenwelt.

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