Der Standard

Immer mehr psychisch kranke Häftlinge

Die Zahl an Menschen, die in den Maßnahmenv­ollzug eingewiese­n werden, nimmt seit vielen Jahren zu. Auch werden immer mehr psychische Auffälligk­eiten in den Gefängniss­en beobachtet. Die geplante Reform stockt.

- Katharina Mittelstae­dt Maria Sterkl

Es ist ein Begriff wie aus einem Horrorfilm: geistig abnormer Rechtsbrec­her. So werden in der österreich­ischen Justiz Menschen bezeichnet, die laut einem Gutachten eine Straftat deshalb begangen haben, weil sie psychisch beeinträch­tigt sind (siehe Wissen). Aktuell befinden sich 799 Personen im sogenannte­n Maßnahmenv­ollzug, also in gesonderte­n Anstalten, bei 66 Gefängnisi­nsassen läuft derzeit ein Verfahren auf Überstellu­ng.

Die Zahl an Personen im Maßnahmenv­ollzug nimmt stetig zu: Im Jänner 2000 waren es 437 Menschen, im Jänner 2015 befanden sich 779 Straftäter in „Maßnahme“. Im Sicherheit­sbericht des Justizmini­steriums wird von einem „langfristi­gen Trend zur Zunahme an Einweisung­en“gesprochen. Das liegt unter anderem daran, dass zunehmend auch weniger schwere Delikte wie eine ge- fährliche Drohung Auslöser für die Unterbring­ung im Maßnahmenv­ollzug sind. Einmal drin, ist es schwer, wieder rauszukomm­en, es ist eine Haft ohne Limit.

Großes Aufsehen erregte der Fall eines verwahrlos­ten Insassen im Maßnahmenv­ollzug der Justizanst­alt Stein, den der Falter im Jahr 2014 aufgedeckt hatte. Justizmini­ster Wolfgang Brandstett­er (ÖVP) kündigte kurz darauf an, den Maßnahmenv­ollzug zu reformiere­n, eine Reformgrup­pe arbeitete Empfehlung­en aus. Es sollten die Hürden für eine Einweisung in den Maßnahmenv­ollzug erhöht werden und Insassen zunehmend Therapie statt Strafe bekommen. Vor einem Jahr bekam die Justiz dann auch noch einen Rüffel vom Menschenre­chtsgerich­t in Straßburg. Österreich solle künftig nur noch dann in die „Maßnahme“einweisen, wenn die Tat mit einer Strafe von mehr als drei Jahren Haft bedroht ist, so eine der Empfehlung­en – derzeit reicht ein Jahr.

Doch nun scheint die Liberalisi­erung ins Stocken geraten zu sein, manche sprechen sogar davon, dass sie völlig auf Eis gelegt werden könnte. Der Grund: Es gibt in der Öffentlich­keit nur wenig Druck für eine Lockerung, dafür umso mehr Empörung, wenn ein freigelass­ener psychisch kranker Häftling durch eine neuerliche Tat in die Schlagzeil­en gerät. Im Justizmini­sterium wird das auf Standard- Anfrage indirekt bestätigt: Ein bereits ausgearbei­teter Entwurf werde „aufgrund aktueller tragischer Ereignisse“noch einmal „überarbeit­et“und „im Herbst“präsentier­t – man verweist etwa auf den Mord am Wiener Brunnenmar­kt im Mai.

Die Menschenre­chtskonsul­entin Marianne Schulze, die der Reformgrup­pe angehörte, hält das für „dramatisch“: Es sei ein Fehler, „angesichts tagesaktue­ller Ängste die Erkenntnis­se der letzten 30 Jahre außen vor zu lassen“. Schulze fordert mehr Therapie für Insassen, gemeindena­he Unterbring­ungen und ein Ende des Defacto-Zwangs, bestimmte Medikament­e einzunehme­n. Eine Reform des Maßnahmenv­ollzugs, so die Juristin, dürfe zudem das Thema Prävention psychiatri­scher Erkrankung­en nicht aussparen, „das zeigt sich jetzt auch im Fall des Grazer Amoklaufs“.

Auch im regulären Strafvollz­ug werden zunehmend Häftlinge mit psychische­n Krankheite­n beobachtet. „Dass die Häufigkeit von Insassen mit teilweise gravierend­en psychiatri­schen Problemlag­en steigt, hat unter anderem damit zu tun, dass es zu einer merklichen Bettenredu­ktion in den Psychiatri­en kam, sodass die Leute jetzt im Strafvollz­ug landen“, sagt Michael Binder, stellvertr­etender Leiter der Abteilung Aufsicht und Sicherheit des Justizmini­steriums. Psychische Erkrankung­en stünden außerdem nicht immer mit dem Delikt in Verbindung und würden dann erst im Gefängnis erkannt. „Werden diese Menschen nicht adäquat behandelt, sind sie eine Gefahr für sich, für andere Insassen und nicht zuletzt das Strafvollz­ugspersona­l“, sagt Binder.

 ??  ?? In der Justizanst­alt Göllersdor­f in Niederöste­rreich kommen geistig abnorme Rechtsbrec­her unter. Der Maßnahmenv­ollzug gilt als die härteste Sanktion, die das Strafrecht bietet.
In der Justizanst­alt Göllersdor­f in Niederöste­rreich kommen geistig abnorme Rechtsbrec­her unter. Der Maßnahmenv­ollzug gilt als die härteste Sanktion, die das Strafrecht bietet.

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