Zinseszins: Vom Wunder zum Fluch
Wenn Zinserträge dem Ersparten gutgeschrieben und fortan weiterverzinst werden, dann spricht man vom Zinseszinseffekt. Das Niedrigstzinsumfeld schlägt aber auch auf diesen Faktor durch. Die Vermögensbildung wird damit erschwert.
Wien – Für die einen gilt er als Wunder, für die anderen ist er ein Rätsel: der Zinseszins. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich Anleger beim Vermögensaufbau jedenfalls auf ihn verlassen können. Denn dadurch, dass die Zinsen nach jeder Zinsperiode dem Sparkapital gutgeschrieben und fortan mitverzinst werden, erzielt der Zinseszins bei langfristiger Veranlagung eine große Wirkung.
Wie sehr der Zinseszins auf eine Veranlagung wirkt, zeigt ein Beispiel von Columbia Threadneedle Investments. Demnach wurde ein zu 60 Prozent aus Aktien und 40 Prozent aus Anleihen bestehendes Portfolio in Europa von 1996 bis 2016 mit durchschnittlich 6,1 Prozent verzinst. „Auf diesem Niveau können Sparer ihr Vermögen alle zwölf Jahre verdoppeln – sogar mit den sichersten Anleihen“, hält Jim Cielinski, Global Head of Fixed Income bei Columbia Threadneedle Investments, in einem Kommentar fest. In Großbritannien lag der durchschnittliche Basiszins in diesem Zeitraum bei 3,4 Prozent, britische und deutsche Staatsanleihen rentierten mit durchschnittlich 4,7 Prozent bzw. 3,6 Prozent. Selbst ohne jegliches Kapitalwachstum hätte sich das Vermögen auf diesem Renditeniveau alle 17 bis 21 Jahre verdoppelt.
Die Niedrigzinsphase hat aus dem Wunder des Zinseszinses jedoch einen Fluch gemacht. Britische und europäische Staatsanleihen rentieren nur noch mit rund 0,5 Prozent. Damit brauchte ein Sparer etwa 140 Jahre, um sein Geld zu verdoppeln, rechnet Cielinski vor. Hochgesteckte Ziele in der Altersvorsorge können so jedenfalls nicht erreicht werden.
Und die Alternativen? Nun, am Geldmarkt ist derzeit nichts zu holen, und eine Diversifikation in Aktien, um teure Rentenanlagen zu meiden, könnte mittlerweile riskant sein. Denn laut Cielinski befinden wir uns in der Spätphase des Zyklus, und das Risiko einer deflationären Rezession könnte an den Aktienmärkten zu herben Kursrückgängen führen.
Diese Entwicklung stellt auch die Finanzindustrie vor große Herausforderungen. Anbieter von leistungsorientierten Pensionsplänen kämpfen oft bereits mit einer Deckungslücke. Denn sie haben in der Vergangenheit hohe Renditeversprechen gegeben. „Es ist daher Zeit, den Dingen ins Gesicht zu sehen“, sagt Cielinski. Denn nicht nur, dass Altersvorsorgepläne häufig auf veralteten und heute als unrealistisch geltenden Renditeannahmen beruhen. Auch Sparer und Anleger blickten noch immer viel zu oft in die Vergangenheit. Erträge in der Höhe von fünf bis acht Prozent erhofften sich Anleger aktuell noch immer. Mit dem jetzigen Umfeld sei das laut dem Fixed-Income-Experten aber unvereinbar.
Was also tun? Erst einmal müsse die Problematik für das Thema mehr ins Bewusstsein rücken, hält Cielinski in seinem Kommentar fest. Dann müsse die richtige Anlagestrategie gefunden werden. Vor allem aktive Manager, die durch laufende Anpassungen ihrer Portfolios die Positionen in Aktien, Anleihen und Cash so va- riieren, um damit auf die Änderungen des Wirtschaftsumfelds reagieren zu können, werden laut Cielinski gefragt sein. Dieser Trend spiegle sich bereits darin wider, dass flexible Multi-AssetStrategien an Popularität zunehmen. Auch Veranlagungslösungen, mit denen die Volatilität gesteuert werden kann, werden stärker nachgefragt werden. Denn solche Lösungen nehmen den Anlegern das Problem der richtigen Vermögensaufteilung ab.
Harte Arbeit
In Summe werde die Arbeit für Anlagestrategen jedenfalls härter werden. Und Anleger werden die Perfomance ihrer Asset-Manager kritischer prüfen, erwartet Cielinski. Und wer all das nicht will und auf Sparen setzt, muss heute auch mehr Geld als noch vor Jahren auf die hohe Kante legen, denn die Zinsen am Sparbuch sind ebenso gering und die Inflation nagt daher am Ertrag.
Da die Reallöhne aber kaum steigen, werden sich viele Sparer schwertun, mehr für das Alter zurückzulegen. Wird aber weniger konsumiert, weil mehr gespart wird, hemmt dies das Wirtschaftswachstum und der Schwächezyklus verstärkt sich.